Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Pfützen haben sich unter seinen Schuhen auf dem Boden gebildet. Endlich ist also jemand gekommen, dem Marianne keinen Schuhüberzug aufzuzwingen wagt, denke ich.
»Ihre Finger waren gebrochen«, erklärt er.
Ich sehe offenbar verwirrt aus, denn er beugt sich vor, und plötzlich ist der joviale Mann mit dem strahlenden Lächeln einem anderen, einem härteren, müderen, aber auch energischeren Menschen gewichen, als er sagt: »Jemand hat hart genug auf ihre Hände getreten oder geschlagen, um drei Finger zu brechen.«
Ich verstehe noch immer nicht.
Fatima beugt sich ebenfalls vor.
»Jemand hat auf ihre Hände getreten, als sie versucht hat, sich aus der Rinne zu ziehen«, sagt sie, ohne in ihrem bildschönen Gesicht auch nur eine Miene zu verziehen.
Stockholm 1988
Stefan lag auf Mickes Ikea-Sofa und sah träge ein Video. Der Himmel über Berlin . Er kannte den Film schon, fand ihn aber weiterhin genial. Micke saß am Schreibtisch und schrieb konzentriert in ein Heft. Daneben lag ein abgegriffenes Buch mit dem Titel »Philosophische Untersuchungen«. Die Hausarbeit in Philosophie musste übermorgen abgegeben werden, und wie immer war er bis zur letzten Minute beschäftigt. Die Arbeit über Wittgenstein sollte natürlich gut werden, eine von den besten, und Micke brauchte den Zeitdruck, um eine Spitzenleistung zu liefern. Ulrik und Anders saßen auf dem Boden und spielten Backgammon. Anders würde wohl gewinnen, wie üblich.
Micke hatte Glück. Seine Eltern hatten den Keller als Einliegerwohnung eingerichtet, und mit sechzehn war Micke hinuntergezogen. Großes Zimmer mit Kochnische, Badezimmer und nicht zuletzt einem eigenen Eingang. Und Zugang zu allem möglichen Kram. Fernseher, Video und ein Amiga-Computer. Nachdem Mickes Vater mit einer zwanzig Jahre jüngeren Krankenschwester zusammengezogen war, hatte seine Mutter ihren Sohn mit Liebe und Gegenständen überschüttet.
»Jetzt haben wir nur noch zehn Tage. Kapiert ihr?« Anders redete, während er seine Spielfiguren auf dem schwarzroten Spielfeld bewegte. »Zehn Tage bis zur Freiheit und unserer strahlenden Zukunft.«
»Bist du sicher, dass du nicht mit auf Interrail kommen willst, Arvidsson?« Stefan schaute Micke an und grinste.
»Also, es klingt ja wirklich super, aber ich fahr ins Trai ningslager.«
»Aber Karate? Bist du sicher, dass du ins Trainingslager fährst und nicht auf eine Verbrechertour mit Paolo Roberto, mit Unterricht in Streetfighting und Bandenschlägereien in Kungsan?« Ulrik sah Micke belustigt an.
»Kung-Fu.«
»Was?«
Ulrik schien gar nichts zu begreifen.
»Paolo Roberto macht Kung-Fu. Glaub ich wenigstens. Ich trainiere Karate. Das ist nicht dasselbe. Und Karate ist nicht nur Training. Es ist eine Lebensphilosophie, und es geht um Harmonie und Gleichgewicht. Es hat nichts mit Schlägereien auf der Straße zu tun. Man braucht Selbstkontrolle. Disziplin.«
»Willst du also Selbstkontrolle üben, während wir in Paris Wein trinken und uns flachlegen lassen?« Stefan grinste. »Dann solltest du zu Hause bleiben, glaube ich.«
»Bist du deshalb nie high oder blau? Weil du dann deine Selbstkontrolle verlieren könntest?« Anders sah Micke neugierig an.
Es wurde still im Zimmer.
»Ja, vielleicht teilweise. Es passt nicht so gut zu meiner Lebensphilosophie. Aber ich meine, feel free. Macht, was ihr wollt. Was spielt das in hundert Jahren für eine Rolle? Und könntet ihr jetzt die Klappe halten? Ich muss das hier fertig machen.«
Micke wandte sich ab und schrieb wieder in sein Heft.
»Und wie war das bei Rambo? War’s lustig?«
Ulrik sah Stefan an und grinste. Er war der unter den vieren, der dem Irren mit dem Pferdeschwanz am wenigsten Respekt entgegenbrachte.
»Es war saugut. Er hat uns sein neues Wasserbett gezeigt. Zieht die Frauen an wie ein Magnet, wenn man ihm glauben darf«, sagte Stefan.
»Wasserbett, Arvidsson. Das wär’s vielleicht?«
Anders beuge sich zu Micke und bohrte ihm einen spitzen Finger in die Seite.
»Du solltest deine Mama um ein Wasserbett bitten, dann werden die Mädchen hier draußen Schlange stehen.«
Micke lief hellrosa an, lächelte aber und schüttelte so heftig den Kopf, dass die braunroten Locken über seine Wangen fegten.
»Wasserbett klingt widerlich. Unhygienisch. Da entwickelt sich doch bestimmt Schimmel.«
»Außerdem brauchst du doch keine andere als deine Mama. Und ich kann dir da auch keinen Vorwurf machen. Wie konnte dein Alter sich bloß absetzen, wo er sie doch hatte?
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