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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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griff er im Flur zu seinem Gewehr mit dem Holzkolben, auf dem die Jahresringe ineinander flossen wie die Wellen am Strand. In dem Loch am Ende des schwarzen Laufs hatte gerade die Kuppe meines kleinen Fingers Platz.
    Wir traten vor die Tür, und es war deutlich kälter, als ich gedacht hatte. Die Kälte brannte mir im Gesicht, und die Stiefel hinterließen dunkle Spuren in dem von Reif überzogenen Gras, aber so sollte es sein. Es sollte im Gesicht brennen, und der Rucksack sollte scheuern und mir bei jedem Schritt, den ich tat, gegen die Hüfte schlagen. Alles war so, wie es sein sollte, wenn der Frost gekommen und der Morgen so unklar und milchig weiß war wie die Eisschicht auf der Frontscheibe des Pick-ups, den Vater, soweit ich mich erinnere, damals ganz neu gekauft hatte.
    Die nächste Erinnerung setzt ein, als wir allein im Wald saßen. Irgendwo bei Hundershei, denn ich entsinne mich, dass ich auf den Hessvannet schauen konnte, der ganz schwarz und still zwischen den mit Kiefern bewachsenen Ufern lag. Es war noch immer kalt, aber die Sonne stand klar über den Höhenzügen im Süden, und der Raureif im Gras war weitgehend geschmolzen. Er funkelte in den langen grauen Stängeln vor meinen Stiefeln. Ich saß ein Stück hinter Vater und fror an den Knien. Ganz leise und vollkommen regungslos saß ich da, genau so, wie er es mir gesagt hatte. Ich betrachtete meinen Vater aus den Augenwinkeln, ihn und das Gewehr, und irgendwie kam es mir unwirklich vor, dass er und ich mit einem geladenen Gewehr im Wald saßen und warteten. So sollte es nicht sein. Wir hätten an einem ganz anderen Ort sein sollen. Ich zu Hause in meinem Zimmer, mit einem Buch auf dem Bett liegend, und Vater hätte im Wohnzimmer sitzen und in Finslan d – Höfe und Familien blättern müssen, oder in Trygve Gulbranssens Trilogie. Oder einfach in der Küche sitzen und aus dem Fenster sehen sollen. Was auch immer, nur nicht hier, mitten im Wald mit einem geladenen Gewehr auf den Knien. Ich erinnere mich nicht, wie lange wir dort saßen; so lange kann es nicht gewesen sein, denn plötzlich brachen zwei große Elche aus dem Unterholz und sprangen auf uns zu. Aus der Entfernung schien es, als wären sie lautlos und glitten wie zwei große Schiffe mit hohem Tempo an den Baumstämmen vorbei, doch als sie näherkamen, hörte ich, wie Äste zerbrachen, Heidekraut und Wacholderbüsche zur Seite gefegt und kleine Birken niedergetreten wurden. Vater hob das Gewehr und stieß gleichzeitig einen langen Pfiff aus. Durch den Pfiff blieben sie stehen. Ich hatte ihn selten pfeifen hören, ich war so verblüfft, dass ich völlig vergaß, mir die Ohren zuzuhalten. Dann zielte er. Ich hätte nie geglaubt, dass irgendein Elch auftauchen würde, und als sie dann auf uns zukamen, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass sie stehenblieben. Aber so war es. Sie waren aus dem Nichts gekommen und blieben stehen, Vater zielte, und alles kam mir unwirklich vor. Ich schaute nicht auf die Tiere, wusste aber, dass sie regungslos dastanden. Ich sah ihn an. Den Nacken, das Ohr, die Wange, die weich auf den Wellen ruhte. Dann knallte es. Die beiden Tiere sprangen davon und verschwanden hinter einem kleinen Waldstück. Ich war sicher, dass er daneben geschossen und ich obendrein mein Gehör verloren hatte, denn von irgendwo tief im Inneren meines Kopfes jaulte es, und im ersten Moment dachte ich, mit diesem Pfeifen im Ohr müsste ich den Rest meines Lebens zubringen. Dann erhob er sich ruhig von seinem Rucksackstuhl, setzte das Gewehr ab und sagte: »Geh hin und sieh nach.«
    »Aber die sind doch weggelaufen«, antwortete ich.
    »Geh hin und sieh nach«, wiederholte er nur.
    »Wo denn?«
    »Geh schon«, sagte er. »Folge ihnen.«
    Er sicherte das Gewehr, während ich zögernd durch das hohe Gras ging, über einen Graben sprang und zwischen den Bäumen an einem dicht bemoosten Felsen stehenblieb.
    »Ich sehe nichts!«, rief ich.
    »Geh noch ein bisschen weiter«, forderte Vater mich auf.
    Ich ging weiter durch das unzugängliche Gelände, überquerte ein sumpfiges Stück Waldboden und kam schließlich zu einer Felskuppe, von der ich mich umsehen konnte.
    Der Elch lag nur wenige Meter von mir entfernt. Auf einem kleinen Sumpfstück. Reglos. Mit weit aufgerissenen Augen. Blank wie Glas.
    »Er ist tot!«, schrie ich.
    Er antwortete nicht, und ich konnte ihn von meinem Standort auch nicht sehen.
    Ich begriff noch immer nicht, was sich ereignet hatte. Ein Schuss. Nur ein einziger

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