Beweislast
und Schöffen die gleichen Rechte, erklärte Manuel. Den Laien jedoch obliege die Aufgabe, den Fall nicht durch die juristische, sondern durch die neutrale Brille zu sehen – um sozusagen das Volksempfinden mit einbringen zu können. Letztlich könnten die beiden Schöffen trotz ihrer Minderheit aber nicht überstimmt werden. Denn zur Urteilsfindung bedürfe es der Zustimmung zumindest eines der beiden Schöffen. Allerdings, so wusste Manuel aus seiner Ausbildungszeit, kam es nur selten vor, dass es in der Urteilsberatung harte Auseinandersetzungen zwischen Berufsrichtern und Laien gab. Den Juristen, die sich im Gegensatz zu den Schöffen bereits im Vorfeld in die Ermittlungsakten einlesen konnten, gelang es meist, ihre Sicht der Dinge plausibel und überzeugend darzulegen. Gestritten wurde dann eher über die Höhe der Strafe. Das Gesetz gab vielfach einen weit gesteckten Strafrahmen vor, der viele Spielräume ließ – bis hin zu einer Strafminderung bei erheblich verminderter Schuldfähigkeit.
Und wenn jedoch das Landgericht ein Urteil sprach, gabs davon so schnell kein Entrinnen. Denn während beim Amtsgericht jederzeit und ohne Angabe von Gründen der Weg in die zweite Instanz möglich ist, in die Berufung also, bedarf es nach einem Urteil einer Strafkammer eines komplizierten Vorgangs. In diesem Fall lässt das Gesetz nur die sogenannte Revision zu. Manuel hatte es so formuliert: »In der Revision wird nur das Urteil auf Rechtsfehler geprüft. Neue Beweise spielen keine Rolle.« Ein Revisionsgericht dürfe die Folgerungen, die die Strafkammer zuvor getroffen habe, nicht durch eigene ersetzen.
»Die Beweiswürdigung ist nur angreifbar, wenn sie fehlerhaft war«, hatte Manuel versucht, den beiden Frauen die weiteren Möglichkeiten aufzuzeigen, ohne sie allzu sehr beunruhigen zu wollen. Denn sie alle wehrten sich innerlich gegen den schrecklichen Gedanken, Gerd würde in Hand- und Fußfesseln den Gerichtssaal verlassen müssen. Verurteilt.
Den Frauen waren die Ausführungen Manuels verwirrend erschienen. Sie hatten den Eindruck, ein Verurteilter habe kaum eine Chance.
Allerdings gab es einen winzigen Lichtblick, wie sich Monika erinnerte: Falls die Verteidigung überzeugend darlege, dass sich dem Gericht eine weitere Beweisaufnahme hätte aufdrängen müssen, dann hebe der Bundesgerichtshof das Urteil auf und verweise die Angelegenheit an eine andere Kammer – meist desselben Landgerichts. Die Vorstellung, Gerd und sie alle müssten diesen endlosen Instanzenweg gehen – falls Manuel überhaupt solche Verfahrensfehler würde nachweisen können – erschreckte sie.
Manuel hatte zudem vorsichtig einfließen lassen, dass auch eine Wiederaufnahme äußerst hürdenreich sei. Dafür müssten anschließend völlig neue Tatsachen oder Beweismittel vorgetragen werden.
Er hatte ein Beispiel genannt: Würde ein Zeuge, der schon einmal vernommen worden ist, plötzlich etwas anderes berichten, musste er eine einleuchtende Erklärung für seinen Sinneswandel vorbringen. Auch die Behauptung, ein neues Gutachten sei erforderlich, reiche allein nicht aus. Um ein Wiederaufnahmeverfahren erfolgversprechend angehen zu können, müsse bereits ein neues Gutachten vorliegen.
Wiederaufnahmeverfahren. Monika erschrak, wie sie das immer tat, wenn sich ihre Gedanken im Kreise drehten. Weshalb kamen überhaupt solche Gedanken auf? Es würde kein solches Verfahren geben, weil es gar keine Verurteilung gab. Ganz bestimmt. Sie sah den Dunstschwaden zu, die sich langsam auflösten. Und sie sah die Brücken, die den großen Fluss überspannten. Brücken waren Verbindungen. Brücken konnten Abgründe überwinden. Wieder diese Gedanken.
»Zuständig für das Wiederaufnahmeverfahren, auch für die Vorprüfung, ist für Ulm die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Rottweil«, hörte sie Manuels Erklärungen nachklingen. Und er hatte gesagt, dass bei einer Ablehnung im Vorverfahren noch Beschwerde beim Oberlandesgericht möglich wäre: »Das verwirft die Beschwerde oder ordnet dann selbst die Wiederaufnahme an.«
Und käme es tatsächlich in einem Verfahren zu einem neuerlichen Urteil oder Freispruch, dann gäbe es dagegen wieder die Revision zum Bundesgerichtshof. Es war furchtbar, dachte Monika. Sie würden keine Ruhe geben. Die Juristen. Der Staatsanwalt. Sie würden so lange bohren und drängen, bis sie Gerhard für immer wegsperren konnten. Nacht für Nacht musste sie daran denken. Und Gerhard auch – obwohl er es bei keinem ihrer
Weitere Kostenlose Bücher