Beweislast
einen schönen Gruß von mir.«
Eckert nickte, während Hudelmaier in seinen roten Golf stieg.
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»Er ist tot?« wiederholte Häberle, dem die gespielte Gelassenheit Linkohrs geradezu provokativ erschien.
»Autounfall«, erwiderte der junge Kollege und blätterte wieder in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen. »Zwischen Degenfeld und Weiler in den Bergen von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Hinterm Furtlepass – ich weiß nicht, ob ihr wisst, wo das ist.«
»Klar doch«, entgegnete Häberle, der als Wanderer und Radler jeden Winkel in der näheren und weiteren Umgebung kannte. Auch Linkohr hatte er schon mehrfach geraten, sich als Kriminalist mit den landschaftlichen Verhältnissen seines Zuständigkeitsgebiets auseinanderzusetzen. Der Furtlepass war eine der steilsten Strecken in diesem Gebiet. Er führte, abseits des weithin bekannten Segelflugplatzes Hornberg, über einen Höhenrücken in Richtung Remstal hinüber, nach Schwäbisch Gmünd.
Speckinger zeigte Ungeduld. »Lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen«, mahnte er, achtete aber darauf, dass es eher frotzelnd klang.
»Passiert ist das am Abend des 4. November – 23.25 Uhr etwa. Der Mann war auf der Fahrt zu einer Bekannten in Schwäbisch Gmünd und starb noch an der Unfallstelle. Auto Totalschaden«, machte Linkohr weiter. »Auf ein Fremdverschulden gibt es keine Hinweise. Allerdings hat man auch keine Zeugen.«
»Und wer ist dieser Mann?«, wollte Häberle wissen.
»Genau das ist das Interessante daran«, meinte der Jung-Kriminalist triumphierend. Wieder drehte er einige Papiere um. »37 Jahre alt, beschäftigt beim Hauptzollamt Ulm – inder Finanzkontrolle Schwarzarbeit.«
»Name?«, drängte Häberle.
»Blücher. Ulrich Blücher.«
»Blücher?«, wiederholte Häberle ungläubig. »Doch nicht von dem … Blücher?«
Linkohr nickte und Speckinger runzelte die Stirn. Blücher, klar – Eulengreuthof.
Stundenlang konnte Monika Ketschmer in Ulm aus dem Fenster sehen – hinab auf die friedlich dahinfließende Donau, auf die sanften Morgennebel, die in der aufgehenden Sonne langsam die Stadt zu enthüllen schienen. Ein langer Winter ging zu Ende. Ein langer, böser Winter, dachte Monika und wünschte sich, die Sonne würde auch die Gefängnismauern verschwinden lassen – diese Backsteinmauern, da unten in der Stadt. Irgendwo in diesem Häusermeer war Gerd eingesperrt. Eingesperrt seit vier Monaten. Vier endlose Monate. Eine Ewigkeit. Sie besuchte ihn alle zwei Wochen. Die Briefe, die sie sich schrieben, wurden alle geprüft – gelesen von Juristen. Anfangs hatte sie Hemmungen gehabt, ihre Gedanken niederzuschreiben, doch jetzt war ihr es egal, was die Beamten dachten, die es lasen.
Manuel bemühte sich zwar, sie zu trösten. Doch sie wusste, dass es auch zu seinem Job gehörte, Angehörige von Angeklagten zu trösten. Nie zuvor hatte er sich in einen Fall derart hineingekniet. Abende lang hatten sie in den vergangenen Wochen diskutiert und alle Möglichkeiten durchgespielt – oder doch nicht. Alle nicht, nein, meldete sich eine Stimme in Monikas Kopf. Aber sie verdrängte diese Stimme, diese verdammte Stimme, die ihr sagen wollte, dass die fünf Menschen, die über Gerd richten würden, alles auch ganz anders sehen konnten. Eben nicht so, wie sie es Abende lang diskutiert hatten. Fünf Menschen würden Schicksal spielen.
Manuel hatte ihr und Chrissi die Funktionsweise des Gerichts erklärt – und sie hatten ihm zugehört wie nie zuvor, wenn über seine Arbeit gesprochen worden war. Jetzt wusste sie, dass ein Schwurgericht für Kapitalverbrechen zuständig ist. Es bestand aus fünf Richtern – drei davon waren Berufsrichter, trugen also eine schwarze Robe, die beiden anderen waren Schöffen, Laien. Diese wurden in einem bestimmten Turnus von Kommunalpolitikern aus der Bürgerschaft vorgeschlagen, meist sogar nach gewissem Parteienproporz, möglichst aber aus allen Bevölkerungsschichten. Ein Schöffenwahlausschuss, so hatte es Manuel erklärt, stelle aus diesem Personenkreis dann die Schöffen für Amts- und Landgerichte zusammen. An welchen Verhandlungen sie teilnehmen müssten, unterliege dem Zufall: Denn ihre Sitzungstage seien bereits ein Jahr im Voraus festgelegt – zu einem Zeitpunkt also, zu dem noch niemand wissen könne, welcher Angeklagte sich an welchem Tag verantworten müsse. Auf wen also Gerd stoßen würde, war Schicksal.
Bei der Urteilsberatung hatten Berufsrichter
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