Beweislast
Kollege griff den Hinweis auf und begann, in seinen Aufzeichnungen zu blättern. »Bussard hat den dunkelblauen Ford Fiesta von Grauer entdeckt. Drüben am ›Erlenhof‹.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf die entsprechende Stelle auf der Wanderkarte. Bruhn wollte es allerdings nicht sehen. »Und? Spuren, Hinweise, Zeugen?« Ein Tonfall wie ein Maschinengewehr.
»Entschuldigung«, entgegnete Häberle und verzog sein breites Gesicht zu einem vorsichtigen Grinsen, »wir stehn erst am Anfang.«
»Anfang«, wiederholte Bruhn scharf, »was heißt da Anfang? Wenn ich recht informiert bin, hat sich das Verbrechen bereits vor mindestens 18 Stunden abgespielt. Und Sie erzählen mir was von Anfang!« Bruhn griff zu einem der Schnellhefter, die auf Speckis Schreibtisch lagen, nahm ihn für ein paar Sekunden in die Hand und warf ihn im hohen Bogen wieder zurück, worauf die Akte auf den Boden segelte. »Stehn Sie nicht tatenlos rum«, fuhr er Häberle an, der keine Miene verzog, »eine Sonderkommission muss her. Rufen Sie die Leute zusammen. Alle. Zackzack, sofort.«
Häberle verschränkte gelassen die Arme, was Bruhn sofort als Zeichen allergrößter Provokation wertete. Die beiden Männer sahen sich für einen Moment angriffslustig in die blitzenden Augen. »Alles, was nötig ist, wird veranlasst«, stellte Häberle sachlich fest, »so lange es noch hell ist, werden wir uns den Tatort ansehen.« Er schaute auf seine Armbanduhr. Um diese Jahreszeit wurde es um 17 Uhr bereits dunkel. Sie mussten sich tatsächlich beeilen.
Specki faltete seine Wanderkarte wieder zusammen, was Bruhn als völlig überflüssig erachtete: »Falls Sie nicht wissen, wo der Tatort ist, kann ich Ihnen Nachhilfeunterricht geben«, raunzte er. »Los, gehn Sie raus! Ich will niemand mehr im Büro hocken sehn!«
Specki zeigte sich davon unbeeindruckt und war noch immer mit seiner Wanderkarte beschäftigt. Bruhn starrte ihn wutentbrannt an, rang nach Worten, die er nicht fand, und machte kehrt. Er stürmte aus dem Büro und warf die Tür so heftig zu, dass am Rahmen der Verputz rieselte.
Häberle wandte sich kopfschüttelnd an Specki: »Ruf du ein paar Kollegen an. Sie sollen so schnell wie möglich kommen. Nicht hierher, sondern raus zum Tatort.« Er überlegte. »Und sorg dafür, dass die Kleidung des Toten sichergestellt wird. Vielleicht findet sich etwas für eine DNA-Analyse.« Gemeint war der genetische Fingerabdruck, mit dessen Hilfe man bereits aus winzigsten Partikeln nachweisen konnte, welcher Person sie zuzuordnen waren– vorausgesetzt natürlich, es gab Vergleichsproben von möglichen Verdächtigen. Häberle hatte noch eine weitere Bitte: »Ach ja, wenn du ihn kriegst, hol auch den Linkohr her.« Mit diesem jungen Kollegen von der Kriminalaußenstelle Geislingen hatte er in jüngster Zeit schon so viele knifflige Fälle gelöst, dass er auf ihn auch jetzt nicht verzichten wollte. Vermutlich würde es diesem engagierten Beamten Freude bereiten, wieder einmal in einer Sonderkommission mitzuarbeiten. Zum Leidwesen seiner Freundin Juliane, falls es die überhaupt noch gab …
»Noch was, August. Diese Drohungen, das Arbeitsamt und so … das alles könnte auch eine politische Variante haben.«
Häberle sah seinen Kollegen verwundert an. »Ja – und? Hast du damit ein Problem?«
»Ich nicht. Aber nach allem, was du hinter dir hast! Deinen Fußballskandal und die Sache mit Lugano …«
Der Chefermittler lächelte milde. »Keine Sorge. Inzwischen kann mich nichts mehr erschüttern. Gar nichts mehr.« Er ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um: »Gar nichts«, bekräftigte er, »auch nicht der Bauernstreit vom Eulengreuthof, falls du das meinen solltest. So ist unser Job, Specki – spannend, wie das Leben. Vor ein paar Monaten noch mit Klinsmann zusammengesessen – und jetzt mit den Abgründen der menschlichen Seelen auf dem Land befasst. Wer weiß …« Häberle zuckte mit den breiten Schultern, »… vielleicht hast du ja recht und da steckt was Politisches dahinter.«
Ketschmar hatte sich strikt geweigert, das Auto aus der Garage zu fahren. Er war mit Monika deshalb im Marrenwald spazieren gegangen, der direkt an das Wohngebiet grenzte. Unterwegs hatte er das knatternde Geräusch eines Hubschraubers wahrgenommen, der vermutlich entlang der anderen Talseite geflogen war. Irgendwie musste sich der Pilot zwischen den Nebelschwaden durchgemogelt haben. Wenn dort bei diesen schlechten Sichtverhältnissen ein Hubschrauber flog,
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