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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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sicher gutgemeinten Versuch, ihn Akkordeon spielen lernen zu lassen, wo er doch absolut unmusikalisch war und sich von den wöchentlichen Musikstunden gequält fühlte. Sein Interesse lag woanders. Die Naturwissenschaften faszinierten ihn. Wenn er täglich Stunde um Stunde vor dem Fernseher saß, waren es nicht nur die Abenteuer- und Kriminalfilme, die er verschlang, sondern auch die Berichte über Physik, Chemie und vor allem über die Raumfahrt. Hätte er es heute noch mit der Berufswahl zu tun, er würde sich für Luft- und Raumfahrt entscheiden. Eine Technologie mit Zukunft. Vielleicht wäre er im Spaceshuttle geflogen. Oder auf dem Mond gewesen …
    Nun war alles geplatzt. Gescheitert. Und alle konnten es sehen. Gerhard Ketschmar, der Absteiger, der Verlierer. Halt doch ein Arbeiterkind. Er hats mit fünfzig nicht geschafft, sich finanziell in Sicherheit zu bringen.
    Die, die diese Sozialgesetze erfunden hatten und damit die notorischen Faulenzer abstrafen wollten, hatten ihre Schäfchen in diesem Alter längst im Trockenen – in der Schweiz oder auf den Bahamas oder sonst wo. Ja, keine Frage, er war gescheitert.

10
     
    Specki, wie ihn seine Freunde und Kollegen nannten, war Ende 50, aber noch immer wieselflink und ein scharfer Denker. Er hatte Spaß an seinem Job, auch wenn sie zunehmend unter dem Druck der Theoretiker zu ersticken drohten. Specki war, nachdem ihn der Kollege von der Verkehrspolizei angerufen hatte, sofort zur Dienststelle gefahren, um in Aktenordnern zu blättern und Computerdateien nach dem Namen ›Grauer‹ zu durchforsten. Es dauerte keine halbe Stunde, bis er fündig wurde. Grauer, ja – ein Friedbert Grauer hatte vor vier Monaten ein erstes Mal wegen eines anonymen Drohbriefs Anzeige erstattet. Eine Kopie davon war in einer Klarsichthülle abgelegt worden. »Du feige fette Sau«, stand da auf dem Computerausdruck zu lesen, »du lebst auf Kosten der Arbeitslosen. Aber dir wird die Fresse noch gestopft. Für immer.«
    Fingerabdrücke hatte es keine gegeben, las der Kriminalist auf dem folgenden Blatt. Er blätterte weiter und stieß auf eine zweite Kopie. Der Unbekannte hatte bereits drei Wochen später erneut geschrieben: »Letzte Warnung. Tu was und hock nicht nur auf deinem fetten Arsch.« Auch in diesem Fall keine Spuren. Specki nahm den Ordner, setzte sich an den Schreibtisch und lehnte sich zurück. Die Kollegen, so entnahm er den Akten, hatten Grauer zweimal vernommen und erfahren, dass er sich niemanden konkret vorstellen konnte, der ihn auf diese Weise bedrohte. Natürlich mache er sich mit seiner Tätigkeit als Berater im Jobcenter der Agentur für Arbeit nicht gerade Freunde. Mancher frustrierte Arbeitslose werde schon mal laut und ruppig, aber nie habe ihm jemand direkt oder indirekt nach dem Leben getrachtet. Von seinem Vorgesetzten hatten die Kriminalisten damals erfahren, dass durchaus gelegentlich erboste Schriftstücke an die Agentur gesandt wurden, doch seien diese eher allgemeiner Natur. Grauer selbst nahm die persönlichen Drohungen jedoch ernst, zumal sie an seine Privatadresse geschickt worden waren. Der Kriminalist legte den aufgeschlagenen Ordner auf die Schreibtischplatte und schaute aus dem Fenster zur nahen Göppinger Stadtkirche hinüber. Was würde es für einen Sinn machen, wenn ein Arbeitsloser seinen Berater umbrachte? Dadurch bekäme er noch lange keinen Job. Oder war der Leidensdruck so groß, dass jegliche Hemmschwelle überschritten wurde? Als Beamter hatte er sich bisher nie richtig mit den Einschnitten ins soziale Netz der Arbeitnehmer auseinandergesetzt. Egal, was passierte, arbeitslos konnte er schließlich nicht werden. Er hatte sich deshalb auch nicht gegen die Erhöhung der Wochenarbeitsstunden für Beamte gewehrt. Wenn man die Situation realistisch betrachtete, war man in diesen rauen Zeiten im Beamtentum am besten aufgehoben.
    Sein Handy riss ihn aus seinen Überlegungen.
    »Ja, Speckinger«, meldete er sich.
    Es war der Kollege Scholz von der Verkehrspolizei. »Wir haben ein erstes Ergebnis von der Gerichtsmedizin.« Er machte eine Pause, als wolle er die Spannung steigern. »Sie sagen, Grauer sei erdrosselt worden.«
    Speckinger kniff die Augen zusammen. »Erdrosselt?«, fragte er ungläubig. »Ich denk, ihr seid bisher von einem Verkehrsunfall ausgegangen.«
    »Ich hab dir doch bereits angedeutet, dass es Zweifel gab …« Scholz schien unsicher zu sein.
    »Und was ist mit der Verletzung am Knie?«
    »Das könnte von einem Zusammenstoß

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