Beweislast
diesem Abgrund, während hinter ihm die Planierraupen aufgereiht waren und ihm den Weg zurück versperrten. Ein Bild aus seinen Albträumen, aus denen er regelmäßig schweißnass erwachte. Wahrscheinlich hatte er gar keine andere Wahl – entweder springen oder hinuntergeworfen zu werden. In den freien Fall.
Es war kurz vor ein Uhr und Bruhn bereits heimgegangen, als die Kriminalisten zum wiederholten Mal die Kaffeemaschine in Gang setzten.
»Schaut euch das an«, übertönte plötzlich eine Stimme das Gemurmel in dem Saal. Es war jener Kollege, der seit Stunden in seinen Flachbildschirm starrte und die Bilder aus der Kamera des Toten bearbeitete. Mit allerlei Tricks war es gelungen, kontrastschwache Fotos schärfer zu machen. »Da steht ein Auto«, erklärte der auf Computertechnik spezialisierte Kriminalist den näherkommenden Kollegen. Der Experte deutete mit dem Kugelschreiber auf die Mitte seines Bildschirms, wo ein stark vergrößertes und somit ziemlich verpixeltes Bild zu sehen war. Häberle kniff die Augen zusammen, ohne jedoch die Euphorie seines Kollegen teilen zu können. Auch die anderen Männer vermochten beim besten Willen nichts zu erkennen. Doch der Kriminalist ließ sich nicht beirren, zoomte eine Stufe zurück und deutete erneut auf den Punkt, den er meinte. Jetzt war der Bürocontainer von der Baustelle erkennbar, von schräg oben fotografiert. »Hier, da schaut die Schnauze eines gelben Autos hervor.«
Schweigen. Häberle murmelte etwas Zustimmendes. »Mit viel Fantasie, ja«, sagte er schließlich, während nun auch Linkohr näher an den Bildschirm kam. »Gelb,ja, sieht so aus«, meinte er, »dann haben die Jungs vom Steinberghof vielleicht doch recht – dass am Spätnachmittag dort noch ein Auto stand.«
Ein anderer Kollege schlug sogleich vor, den Bauleiter selbst zu befragen. »Den werden wir auch am Sonntagmorgen kriegen, denk ich.«
Häberle verspürte zum ersten Mal einen Anflug von Müdigkeit. »Das übernehmen der Kollege Linkohr und ich«, entschied er, »vielleicht könnt ihr noch irgendwie rauskriegen, wie die Firma heißt. War irgendeine in Stuttgart, glaub ich. Und dann machen wir Feierabend.«
»Und die andern Bilder wollen Sie nicht mehr sehen?«, fragte der Computerexperte. Es klang enttäuscht.
»Doch, doch«, antwortete Häberle schnell. »Sie sagten doch, es seien lauter Baustellen – oder nicht?«
»Manche lassen sich zuordnen, hier …« Er klickte auf die entsprechende Datei, worauf sich sofort ein Bild öffnete, »… dahinten ist der Hohenstaufen drauf. Die Baustelle da vorne muss irgendwo in einem dieser Orte Richtung Wäschenbeuren und Lorch aufgenommen worden sein.« Er klickte weiter. »Immer mit verschiedenen Einstellungen des Zooms.«
»Seltsames Hobby«, kommentierte der Chefermittler, »wir brauchen morgen auch seinen Vorgesetzten vom Arbeitsamt – und dann will ich mir diese Personen zur Brust nehmen, die gestern auf dem Steinberghof Most trinken waren …«
»Ich hab bereits versucht, sie anzurufen«, meldete sich ein Kollege zu Wort. »Bei drei Personen meldet sich keiner, bei einem hab ich auf den Anrufbeantworter gesprochen und beim fünften Anruf hab ich einer Oma ausrichten lassen, der Herr Soundso soll zurückrufen. Hat er aber bisher nicht getan.«
»Dürftige Ausbeute«, meinte Häberle. »Weiß man eigentlich schon, ob es verwertbares DNA-Material an der Leiche gegeben hat?«
»Man versucht es«, kam eine Antwort aus den hinteren Reihen, »am Pullover des Opfers haben die Kollegen was gefunden – sie haben vorhin noch angerufen. Verwertbar oder nicht, das wird sich noch zeigen. Es seien möglicherweise Speichelreste. Könnte aber auch von ihm selber stammen.«
»Dann haltet mal die Daumen«, lächelte Häberle. »Wir treffen uns um neun wieder.«
Über der Donau hielt sich der Nebel hartnäckig – wie an vielen Tagen zu dieser Jahreszeit. Während Ulm unter einer tristen weißen Decke lag, konnte auf der nahen Albhochfläche die Sonne scheinen.
Die Ketschmars hatten mit Tochter und Schwiegersohn gefrühstückt und über deren abendlichen Ausflug nach München gesprochen. Das Thema Arbeitslosigkeit wurde ausgespart – und Schwiegersohn Manuel erzählte schließlich von Fällen, die er in der vergangenen Woche als Anwalt hatte bearbeiten müssen. Eine fahrlässige Tötung war darunter gewesen. Verkehrsunfall. Ein Autofahrer hatte in einer unübersichtlichen Kurve einen Radfahrer erfasst. Der war später seinen schweren
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