Beweislast
Verletzungen erlegen. »Freispruch war natürlich nicht drin«, kommentierte Manuel, »obwohl der Radler in der Dämmerung ohne Licht gefahren ist. Aber als Autofahrer …« Er lehnte sich zurück. »Als Autofahrer bist du in solchen Fällen immer der Dumme. Du musst so fahren, dass du jederzeit halten kannst.«
»Ein bisschen weltfremd, meinst du nicht?«
»Aber notwendig«, erwiderte Manuel und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, »natürlich fährt auf der Autobahn kein Mensch so, dass er jederzeit vor einem Hindernis halten kann. Zumindest in der Nacht dürfte dann niemand schneller als hundert sein. Oder denk an die Möglichkeit, dass ein Lastzug plötzlich ausschert. Aber im Gesetz brauchst du halt eine klare Regelung. Von jedem, der ein Fahrzeug lenkt, geht eine Gefahr aus – und für alles, was er damit anrichtet, ist er verantwortlich.«
Ketschmar nickte und spürte die Blicke seiner Frau und seiner Tochter. Wie konnte er es nur bewerkstelligen, mit Manuel allein zu reden? Nicht mit ihm, dem Schwiegersohn, sondern mit dem Anwalt Traknow, der im gesamten Ulmer Landgerichtsbezirk einen phänomenalen Ruf genoss.
»Manchmal denk ich mir«, meinte Ketschmar, während er durch die große Fensterfront ins triste Weiß hinausblickte, »… ja, da denk ich mir, dass man als Autofahrer oftmals mit einem halben Bein im Gefängnis steht.«
»Naja«, lächelte der junge sympathische Anwalt, »ganz so dramatisch ists ja auch wieder nicht. Wer sich an Recht und Ordnung hält, braucht sich zumindest nichts vorzuwerfen, wenn ihm mal etwas passiert. Ich sag immer: Leute, haltet euch an die Straßenverkehrsordnung – dann wird euch niemals das Gewissen plagen.« Es klang ein bisschen wie bei einem Plädoyer. »Niemand ist davor gefeit, dass ihm ein Fußgänger oder ein Kind ins Auto läuft. Aber wenn du dir dann wenigstens guten Gewissens sagen kannst, dass du dich an die Regeln gehalten hast, wird dir das ein kleiner Trost sein.«
Wie recht er doch hat, dachte Ketschmar und erschrak, als sich Monika in das Gespräch einmischte. »Gerhard wär auch beinahe in so etwas reingeraten«, hörte er sie sagen, »vielleicht solltet ihr mal miteinander drüber reden.« Sie hatte den richtigen Zeitpunkt erkannt. Ketschmar war für einen Moment irritiert. Doch er musste sich eingestehen, dass seine Frau wieder mal ein Gespür für den geeigneten Augenblick hatte.
Manuel zeigte sich interessiert und schlug »ein Gespräch unter Männern« vor – nebenan in seinem heimischen Büro. Er lehnte sich in dem schweren Schreibtischsessel zurück, während sein Schwiegervater auf einer kleinen Eckcouch Platz nahm, über der in zwei Regalreihen Gesetzbücher standen.
»Monika hat recht – ich muss mit dir reden. Ich bin in eine ziemlich üble Sache reingeraten – befürchte ich.«
21
Specki hatte sich vorgenommen, den direkten Vorgesetzten Grauers aus der sonntäglichen Ruhe zu klingeln. Es war ein vergleichsweise junger Abteilungsleiter, hieß Andreas Hornung und bewohnte mit seiner zierlichen Frau ein Einfamilienhaus in Plochingen – in jener Stadt, in der der Neckar nordwärts abknickt und von der Fils mit reichlich Wasser versorgt wird.
Nachdem sich Hornungs Erstaunen über den unerwarteten Besuch gelegt hatte, führte er den Kriminalisten in ein modern eingerichtetes und in hellen Farben gehaltenes Wohnzimmer. Sie setzten sich in Polstersessel. Frau Hornung ließ die beiden Männer allein.
Speckinger erklärte den Grund seines Kommens, worauf sich Hornung über den Tod seines Mitarbeiters sichtlich betroffen zeigte.
»Umgebracht?«, wiederholte er ungläubig. »Da draußen? Wer um Gottes willen soll ihn denn umgebracht haben?« Hornung, Mitte 30 und nicht gerade sportlich wirkend, rückte seine randlose Brille zurecht.
»Diese Frage hält uns in Atem, denn da hat es wohl in der Vergangenheit einige Drohbriefe gegeben.«
Hornung nickte. »Richtig. Das muss bei Ihnen aktenkundig sein. Herr Grauer war darüber sehr beunruhigt.«
»Hat er denn jemals einen Verdacht geäußert? Ich mein, im Kollegenkreis. Bei uns findet sich in den Protokollen jedenfalls nichts.«
»Was heißt Verdacht? Wir habens nicht immer mit feinster Kundschaft zu tun. Schon gar nicht, wenn man an der Front sitzt wie Herr Grauer.«
»Sie wollen damit sagen, dass Ärger und persönliche Attacken nichts Außergewöhnliches sind?«
»Doch, zum Glück schon. Aber sagen wir mal so – es wundert keinen bei uns, wenn mal laute Worte fallen.« Um
Weitere Kostenlose Bücher