Beweislast
Kontrahenten vor dem bedauernswerten Amtsrichter beinahe an die Gurgel gegangen waren. Außerdem war Stohrer inzwischen im Ruhestand.
»Wieso hätte er ihn lebenslänglich einsperren sollen?«, zeigte sich Häberle interessiert und drehte sich zu dem kauzigen Bauern, der die Hände wieder tief in den Taschen vergrub.
»Mordversuch«, kam es zurück, »die Straße zu uns rüber hat er spiegelglatt gemacht. Vereist. Vollständig. Im Januar 1988. Nachts um eins.«
Die beiden Kriminalisten konnten sich keinen Reim drauf machen. Doch der Eulengreuthof-Eugen klärte auf: »Der hat die Straße mit dem Gartenschlauch nass gespritzt, damit es gefriert und ich ins Schleudern komm.«
Häberle und Linkohr schauten sich verständnislos an. »Mitten in der Nacht?«, fragte der Chefermittler und verschränkte gelassen die Arme. »Mit Wasser? Wie kam das bis zu Ihnen auf die Straße?«
»Im Güllefass«, erwiderte Eugen, »Sie haben keine Ahnung, was dem Sauhund einfällt.« Er kam wieder an den Tisch und setzte sich. »Kriminelle Energie, hat mein Anwalt gesagt. Hohe kriminelle Energie!«
Linkohr wollte sich nicht einmischen, sondern beobachtete seinen Chef, der nur mühsam ein Grinsen unterdrücken konnte.
»Ich sag Ihnen eines«, flüsterte Eugen plötzlich, als ob er Angst habe, jemand auf dem Flur könne es hören, »wer so viel kriminelle Energie hat, wie die da drüben, dem ist alles zuzutrauen.« Und um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen, wiederholte Eugen: »Alles – verstehen Sie mich? Alles.«
»Sie haben vorhin einen weiteren Mord angedeutet?«, fragte Häberle vorsichtig. Sofort verfinsterte sich die Miene des Alten. Er schluckte. »Mein Neffe …« Seine Augen wurden feucht. »Wir haben ihn vor zwei Wochen begraben … Ulrich ist gegen einen Baum gefahren. Und alle sagen, es sei ein Unfall.«
»Das tut uns leid«, beruhigte Häberle mit sanfter Stimme, um einen neuerlichen Emotionsausbruch zu verhindern.
19
Als Thomas Speckinger die Räume der Göppinger Kriminalpolizei betrat, schlug es vom nahen Kirchturm bereits 20 Uhr. Der Samstagabend war im Eimer, dachte er, strich sich durchs nebelfeuchte Haar und warf seine klamme Jacke über eine Stuhllehne. Dann ließ er sich in seinen Bürosessel fallen und blickte für einen Moment durch das Fenster in die Novembernacht hinaus. Was hatte diesen Grauer am Freitagnachmittag in die Einsamkeit des Tales getrieben?, überlegte er. War er dort draußen ein zufälliges Opfer geworden – oder gab es eine Opfer-Täter-Beziehung, die erfahrungsgemäß die Aufklärung erleichtern würde? Specki drückte am Telefon einige Tasten und hoffte, einen Kollegen von der Spurensicherung zu erreichen. Er hatte Glück, eine Männerstimme meldete sich. Nachdem sie ein paar flapsige Worte über das Sauwetter gewechselt und sich darüber empört hatten, dass ihnen wieder mal durch ein Verbrechen das Wochenende verhunzt worden war, erkundigte sich Speckinger, ob der Speicherchip von Grauers Digitalkamera bereits ausgewertet sei.
»Das war das Erste, was wir getan haben«, kam es stolz zurück. »Es ist glücklicherweise ein gängiger Typ.«
»Und?«
»Vierundfünfzig Bilder sind drauf. Aber wenn du mich fragst – den Täter hat er nicht fotografiert.«
Specki wusste nicht, ob es der Kollege ernst meinte oder ob er ihn veräppeln wollte. »Du wirst lachen«, konterte er deshalb, »ich hab wirklich gedacht, er liefert uns ein Porträt vom Täter.«
Der Kollege schien die leichte Verstimmung bemerkt zu haben. »Nun ja«, fuhr er deshalb fort, »du kannst es dir ja mal anschauen. Komm rüber.«
Specki bedankte sich, legte auf und eilte ins angrenzende Gebäude hinüber. Auf dem kurzen Weg zwischen den Häusern schlug ihm wieder rau-feuchte Herbstluft entgegen.
Der Kollege von der Spurensicherung hatte sich in seinen Computerraum zurückgezogen, wo unzählige Geräte miteinander verkabelt waren und sich auf zwei Monitoren bunte Bildschirmschoner drehten. Vor einem dritten saß ein jüngerer Kriminalist, der seinen Kopf nicht hob, als Specki eintrat. »Hock dich hin«, sagte er, ohne den Blick von dem Bildschirm zu wenden, auf dem sich formatfüllend ein Landschaftsbild befand, wie der hinzugekommene Kollege feststellte. »Was soll das denn?«, fragte er enttäuscht. »Sind das deine Urlaubsbilder?«
Der Spurensicherer ließ sich nicht von seiner Arbeit abbringen. »Natürlich«, erwiderte er tonlos und versuchte, das Foto mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms zu schärfen
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