Beweislast
Wiederaufnahmeverfahren einen Freispruch erreicht. Nach vielen Jahren Gefängnis und nervenaufreibendem Schriftverkehr mit den Paragrafenreitern, denen er hilflos ausgeliefert war. Nein, wer jemals in die Mühlen der Justiz geriet, tat sich schwer, ihnen wieder zu entkommen. Für jede Geschichte gab es zwei Seiten – und vor Gericht, so hatte er einmal gelesen, war nicht wahr, was wahr sein würde, sondern nur das, was sich schlüssig beweisen ließ. Aber schrieb das Leben nicht manchmal Geschichten, die völlig abwegig waren? Die man keinem Drehbuchautor abnehmen würde? Warum musste dann vor Gericht immer das Logischste wahr sein? Schließlich befanden sich die meisten Täter zum Zeitpunkt ihres Verbrechens in einem seelischen Ausnahmezustand – ohne den Gesetzen der Logik zu gehorchen. Seine Gedanken fuhren mal wieder Achterbahn. Nein, er würde sich nicht freiwillig in den Sog der Justiz begeben. Niemals. Dieser Staat hatte ihm schon genug angetan.
22
Häberle und Linkohr hatten sich für ein Fastfood-Mittagessen am Göppinger Stadtrand entschieden, um so schnell wie möglich mit den Kollegen der Sonderkommission die bisherigen Erkenntnisse besprechen zu können. Specki war nicht nur bei dem Teamleiter des Arbeitsamtes, sondern auch in der Wohnung des ermordeten Grauers gewesen. Der wohnte in einem dieser Wohnblöcke im Göppinger Bergfeld, unweit der Klinik am Eichert. Nachdem keine Angehörigen ausfindig zu machen waren, hatte Specki mit richterlicher Anordnung und mithilfe des Hausmeisters die Wohnungstür öffnen lassen. Was sich ihm dort bot, so berichtete der Kriminalist jetzt, sei eine wahre Junggesellenbude gewesen. Alles deute darauf hin, dass der seriöse Arbeitsvermittler daheim offenbar nichts von Ordnung gehalten habe. »Der hat sich irgendwie durchgewurstelt«, konstatierte Specki. »Er scheint sich aber ziemlich intensiv mit dem Computer befasst zu haben.«
»Ein Chatter also«, meinte Linkohr, der sich lebhaft vorstellen konnte, dass der Mann nächtelang im Internet gesurft und auf diese Weise Anschluss gesucht hatte.
»Das werden unsere Computerexperten feststellen. Jedenfalls gibts dort jede Menge CDs und DVDs, zwei externe Festplatten mit gigantischen Speicherkapazitäten und drei Computer.«
»Lasst alles sicherstellen«, sagte Häberle, »die Kollegen sollen sich so schnell wie möglich an die Arbeit machen. Vor allem will ich wissen, ob es irgendwelche Hinweise auf weitere Fotos gibt. Von Baustellen.«
»Vielleicht hat er seinen Mörder über Chatrooms kennengelernt«, warf Linkohr ein, was einen anderen Kollegen zu einer eher belustigenden Bemerkung veranlasste: »Und hat ein Blinddate in diesem Tal da draußen vereinbart, was?«
Linkohr gab einigermaßen bissig zurück: »Und ich weiß auch schon mit wem – mit dem Eugen vom Eulengreuthof.«
Häberle ging nicht darauf ein. Ihm war im Moment nicht nach Sticheleien und Witzen. »Jemand muss morgen früh, wenn da draußen wieder gebaut wird, nochmal diesen Bauleiter Eckert unter die Lupe nehmen und sein Auto überprüfen.« Der Chefermittler überlegte. »Da stand doch auch noch ein Lkw rum – mit irgendwelchen Holzteilen drauf. Erinnert ihr euch?«
Linkohr nickte. »Richtig, Verschalungen, glaub ich.«
»Keine Spuren«, kam eine Stimme von hinten. Ein Kollege der Spurensicherung hatte sowohl dieses Fahrzeug, als auch verschiedene Maschinen unter die Lupe genommen.
»Ich hätte auch gerne gewusst, wie lange der Herr Eckert am Freitagabend vor seinem Computer gesessen hat«, machte Häberle weiter und lehnte sich mit verschränkten Armen an die weißgetünchte Wand. »Besorgt uns einen richterlichen Beschluss, um einen Blick in seinen Computer werfen zu können, falls Eckert uns nicht freiwillig lässt.«
Der kurze Moment des Nachdenkens und Schweigens wurde vom ruckartigen Aufreißen der Bürotür unterbrochen. Beinahe wäre sie einem der dahinterstehenden Kollegen ins Kreuz geschlagen worden. »Was für eine Schweigeminute geht hier ab?« Die Stimme klang militärisch scharf. Es war Kripochef Helmut Bruhn, der wie ein Hurrikan dazwischenwirbelte und die Tür krachend hinter sich zuwarf. »Und?« Ein einziges Wort und er war schlagartig Mittelpunkt eines Halbkreises, den die versammelten Kriminalisten respektvoll um ihn herum bildeten.
Häberle wusste, dass jetzt er gefragt war, ließ sich aber mit einer Antwort einige Sekunden Zeit. »Wir haben die wichtigsten Personen inzwischen kennengelernt«, sagte er schließlich,
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