Beweislast
Unterbewusstsein irgendetwas ausgeblendet. Sie waren doch in Ulm gewesen, er und Monika, ja, und dann heimgefahren. Zwei Männer hatten sich angekündigt. Natürlich – jetzt erinnerte er sich. Polizisten waren es gewesen. Polizisten, die sein Auto hatten sehen wollen. Aber dann, so kam es ihm vor, war er in ein Zeitloch gefallen, in einen Zustand des Nichtseins, in ein dimensions- und zeitloses Universum. In einen Zustand, mit dem ihn ein gnädiges Schicksal vor einem schlimmen Augenblick bewahrt hat. Ein Selbsterhaltungsmechanismus, wie er vermutlich in die Gene eines jeden Menschen programmiert ist – von wem auch immer. Jetzt wusste er es: Er war ohnmächtig geworden.
Je wacher er wurde und je klarer ihn sein dröhnender Kopf wieder Gedanken formen ließ, desto mehr machte sich eine Angst breit, etwas könnte außer Kontrolle geraten sein. Etwas, auf das er keinen Einfluss mehr haben würde. Verdammt noch mal, warum hatten sie ihn überhaupt so liegen lassen? Sie mussten ihm sofort sagen, was geschehen war. Mit einem Schlag durchzuckte ihn die Vorstellung, eingesperrt zu sein. Noch einmal hob er den Kopf, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich in der Klinik am Eichert war. Und nicht etwa auf dem Hohenasperg, dem Vollzugskrankenhaus. Wie er unschwer feststellen konnte, hatten sie ihn auch nicht an das Bettgestell gefesselt. Aber wer konnte ihm die Gewissheit geben, dass draußen vor der Tür kein Aufpasser saß?
Wo war der Knopf, mit dem man der Krankenschwester klingeln konnte? Er drehte seinen Kopf so weit es ging nach hinten und sah quer zum Bett eine Leiste mit Schaltern und Steckdosen.
Er wollte hier weg. So schnell wie möglich.
Der Novembernebel war in der Nacht noch zäher geworden. Die Hänge des Tales, in das sie hineinfuhren, schienen sich in der weißen Masse zu verlieren. »Haben Sie schon was gehört, wie es unserem Patienten geht?«, fragte Linkohr auf dem Beifahrersitz des Kripo-Audis. Häberle lächelte zu ihm herüber. »Sie haben ihn wieder aufgepäppelt. Vielleicht schicken sie ihn schon heute wieder heim.«
»Der war hypernervös«, konstatierte der junge Kollege, »Juliane hat gemeint, da müssten mehrere Faktoren zusammengekommen sein.« Juliane, seine Freundin, hatte sich gestern am späten Abend noch schildern lassen, was geschehen war. Als Krankenschwester vermutete sie, Ketschmar habe wohl im Zustand einer allgemeinen körperlichen Erschöpfung die zusätzliche Aufregung durch den Besuch der Kriminalpolizei nicht verkraftet. Dass der Kollaps eingetreten war, nachdem sie den Schaden an der Stoßstange bemerkt hatten, wertete Juliane als wichtiges Indiz für ein geradezu traumatisches Geschehen.
»Natürlich haben wir ihn an einem wunden Punkt getroffen«, erwiderte Häberle, der jetzt den Asphaltweg zu den Hofstellen ansteuerte, »aber Sie haben ja gehört, was seine Frau gesagt hat: Ein Blechschaden beim Anschrammen eines Baumstamms. Wir werdens ja gleich sehen. Und die Jungs von der Spurensicherung werden die Stoßstange millimetergenau unter die Lupe nehmen.«
»Naja«, zuckte Linkohr mit den Schultern, »vermutlich wird man kaum noch was finden, falls er den Grauer über den Haufen gefahren hat.«
»Glauben Sie denn das?«
»Was?«
»Naja, dass er ihn angefahren und dann erdrosselt hat?«
Häberle schaltete die Scheibenwischer ein, während Linkohr nachdenklich zum tristgrauen Himmel blickte. »Er war am Freitag da oben …« Der Jungkriminalist sprach langsam. »Er kennt das Opfer … und er fällt in Ohnmacht, als wir den Schaden am Auto entdecken. Irgendwie merkwürdig, oder?«
»Vor allem«, so überlegte der Chefermittler, »hätte er uns doch gleich sagen können, dass er irgendwo hängen geblieben ist. Kann doch jedem passieren. Aber weshalb verschweigt er uns das und lässt es drauf ankommen, ob wirs entdecken.«
Linkohr grinste. »Ich glaub, wir haben ihn auch nicht danach gefragt.«
Häberle nickte. Er setzte den Blinker nach rechts, bog von der ins Tal hinausführenden Straße ab und stoppte wenig später vor dem Bürocontainer, um den mehrere Autos geparkt waren. Drüben auf der Baustelle des Schweinestalls ließ ein Silofahrzeug Fertigbeton in das Fundament rutschen.
Die beiden Kriminalisten stiegen aus und spürten den weich gewordenen Boden unter ihren Schuhsohlen. Der Motor des Lastzugs röhrte, Dieselabgase hingen in der kalten Luft. Häberle und Linkohr waren mit wenigen Schritten an der Eingangstür des Containers und traten nach
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