Beweislast
nicht eingestellt hat. Ist alles denkbar.«
Linkohr, der sich zwischen den stehenden Kollegen einen Bürostuhl ergattert hatte, brachte einen anderen Aspekt in die Diskussion ein: »Für mich stellt sich eine ganz andere Frage. Wenn der Ketschmar also den Grauer umbringt, warum auch immer, vermutlich aber aus Hass über einen selbstherrlichen Bürokraten vom Arbeitsamt, dann muss man sich aber überlegen, wie es zu dem Zusammentreffen ausgerechnet da draußen gekommen ist, dazu noch an einem ziemlich unwirtlichen Freitagnachmittag im November.«
Das Gemurmel verstummte. Häberle, der sich im Türrahmen breit gemacht hatte, nickte verständnisvoll. »Vorläufig müssen wir von einem Zufall ausgehen, der im Übrigen gar nicht so unwahrscheinlich sein muss. Wie wir wissen, hatte dieser Grauer eine seltsame Vorliebe für Baustellenfotos. Er war halt da draußen, ist dort rumgelungert, hier ein bisschen, da ein bisschen, und dann kommt unser Ketschmar vorbei. Er erkennt in dem Mann, der an der Baustelle steht, den Arbeitsvermittler, bei dem er erst am Vormittag war. Der Arbeitslose verspürt unbändigen Zorn – wie schon so oft, wie wir seinen Drohbriefen entnommen haben. Es ist neblig und dunkel – und innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde denkt er, die Gelegenheit ist günstig, den Zorn abzureagieren. Vielleicht hat auch der Most dabei eine Rolle gespielt.« Die Kriminalisten lauschten auf Häberles Ausführungen. Schließlich galt die Kombinationsgabe des Chefermittlers als geradezu genial. Er verschränkte die Arme und dozierte weiter: »Ketschmar braucht nur aufs Gaspedal zu treten, um diesem Grauer eine Lektion zu verpassen. Er tut dies, aber wohl nicht stark genug, weil etwas in ihm ihn daran hindert. Er trifft sein Opfer mit dem rechten Kotflügel. Grauer stürzt verletzt zu Boden – mehr aber nicht. Der Täter zögert vermutlich erneut, hält aber an und muss feststellen, dass Grauer nicht nur sein Kennzeichen abgelesen, sondern ihn nun auch erkannt hat.« Häberle sah in die Runde, die aus einem Dutzend Kollegen bestand. Sie hingen ihm an den Lippen. »Also«, fuhr er fort, »beschließt er, den im Dreck liegenden Mann umzubringen. Er holt sich aus dem Kofferraum den Spanngurt und erdrosselt Grauer damit.«
Nach zwei, drei Sekunden des stillen Überlegens kam eine Nachfrage aus dem Kollegenkreis: »Das war doch aber ziemlich riskant. Wir wissen schließlich, dass zu dieser Zeit ein reger Einkaufsverkehr zum Steinberghof herrschte.«
Der Chef nickte abermals. »Ich sagte ja, dass wir nicht alles wissen. Vielleicht hatte Ketschmar auch nur Glück, dass gerade kein Auto gekommen ist. Aber Sie müssen wissen, dass die ganze Aktion kaum länger als drei oder vier Minuten gedauert hat. Und wenn wir die Kundschaft des Steinberghofs zusammenzählen, dann sind innerhalb einer Stunde maximal fünf oder sechs Autos raufgefahren. Es bleiben also genügend lange Zeitfenster, während derer der Mord verübt werden konnte.«
Linkohr sah sich veranlasst, seinem Chef Schützenhilfe zu leisten, worauf sich die Köpfe zu ihm drehten. »Dass Ketschmar auch nicht gerade feinste Manieren hat, wissen wir aus seinem Vorstrafenregister. Ihr erinnert euch: Vor einigen Jahren hat er einen Architekten von einem Gerüst geworfen.«
»Klar, man kann immer noch irgendwo etwas Ungereimtes finden«, räumte Häberle ein, nachdem er an den Gesichtern abgelesen hatte, dass ihm eine gewisse Skepsis entgegenschlug. »Denken Sie an dieses seltsame Hobby von Grauer. Oder an den Bauernkrieg dieser Einödhöfe – und dass ausgerechnet der Militanteste von ihnen, der alte Blücher beim Hudelmaier vom Erlenhof war, wo Grauer sein Auto geparkt hatte. Aber«, Häberle überlegte kurz, »aber an der DNA-Analyse kommt niemand vorbei. Ketschmars Speichel war an Grauers Pullover. Das muss mir erst mal einer erklären. Der Ziegler jedenfalls …«, er meinte den Leitenden Oberstaatsanwalt in Ulm, »… der hat keine ernsthaften Zweifel mehr an dessen Schuld. Egal, was uns Ketschmar nachher mit seinem Schwiegersohn für eine schreckliche Story erzählen wird – der Mann kommt aus dieser Sache nicht mehr raus. Wir alle hier wissen doch am besten: Wer mit dem genetischen Fingerabdruck überführt wird, braucht sich keine Hoffnungen mehr zu machen.«
Der schwarze Mercedes, der noch die kantige Form aus den 70er Jahren aufwies, war den schmalen Asphaltweg hinabgefahren und hatte hinter einem Klein-Lkw angehalten, der entlang der schmalen
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