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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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schon zum hundertsten Mal, um sofort wieder aufzuschluchzen. Chrissi kämpfte gegen diese Weinkrämpfe an, aber sobald sie etwas sagen wollte, brach es wieder hemmungslos aus ihr heraus. Vati im Gefängnis. In einer kleinen Zelle. Eingesperrt wie ein Schwerverbrecher. Wie ein Mörder. Allein diese Vorstellung verursachte unablässig neue Schüttelfröste. Ihr Körper vibrierte, als ob sie unter Strom stünde. »Sag mir bloß, warum haben sie ihn einfach so abgeholt?« Ihre Stimme klang von Tränen erstickt.
    Die Mutter war mit dem Oberkörper auf die Tischplatte gesunken und drückte sich erneut ein Papiertaschentuch fest auf die Augen. Sie wollte kein Licht mehr sehen. Sie wollte überhaupt niemanden mehr sehen. Nie wieder. »Ich weiß es nicht«, presste sie hervor. »Ich weiß es nicht.«
    Chrissi schloss die Augen und atmete tief durch. »Aber es kann doch nicht nur am Auto gelegen haben – wegen des Blechschadens.« Sie sah zum Fenster, vor dem sich die spätherbstliche Dunkelheit breit machte.
    Die Mutter kämpfte mit den Weinkrämpfen, die ihre Stimme wieder schrill werden ließen. »Ich weiß es doch nicht. Er hat nichts gesagt. Nicht mal zu Manuel. Er hat nur gesagt, dass jemand wie er keine Chance mehr habe.«
    »Vati hat niemandem etwas getan.« Es klang beschwö­rend.
    Monika Ketschmar öffnete vorsichtig die Augen, weil das Licht der Esszimmerlampe sie blendete. »Man hat ihn im Stich gelassen – und nur von einer Behörde zur anderen geschickt. Weißt du, wie sie ihn behandelt haben?« Sie schnäuzte in ihr Taschentuch. »Wie den letzten Dreck, wie einen, der nie ernsthaft gearbeitet hat. Wie einen, der nur den Sozialstaat ausnutzen will. Wie einer von denen, die …«
    Chrissi legte einen Arm auf die Schulter ihrer Mutter. »So weit hats dieser Staat gebracht. Wer ein Leben lang gearbeitet hat, wird mit denen gleichgestellt, die nie einen Cent in die Sozialkassen bezahlt haben.« Es sollte wie ein Trost klingen – und doch war es keiner. Was half es dem Einzelnen, wenns vielen tausend anderen genauso ging? Die junge Frau merkte plötzlich, dass jetzt nicht die Zeit für Kritik an der Regierung war. Ihr Vati hatte jetzt nicht mehr nur mit der sozialen Ungerechtigkeit zu kämpfen, sondern mit weit Schlimmerem – mit der Justiz und deren Welt, die nur aus Paragrafen und handfesten Beweisen bestand. So einem wie ihm wurde jetzt der Boden unter den Füßen weggezogen. Manuel hatte schon oft genug davon erzählt, wie der berufliche Abstieg zugleich einen gesellschaftlichen Niedergang mit sich brachte.
    Manchmal genügte ein kleiner Funke und der angestaute soziale Sprengsatz explodierte. Chrissi ging all dies im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. Angestauter sozialer Sprengsatz, wiederholte sie in Gedanken. Was musste sich nicht alles bei ihrem Vater in den vergangenen Monaten angestaut haben? Er war keiner, der darüber offen reden konnte. Er fraß es in sich hinein – und es musste an ihm bohren und nagen, Tag und Nacht. Unablässig. Jeder Psychiater würde zu dem Ergebnis kommen, dass solche Menschen bei einer Verkettung unglücklicher Umstände zu abnormen Reaktionen neigten. Und wenn sie Glück hatten, das wusste sie von den Schilderungen ihres Mannes, dann wurde ihnen verminderte Schuldfähigkeit zugebilligt. Statt lebenslänglich vielleicht 12 Jahre – oder bei der Feststellung schwerer seelischer Veränderungen die Einweisung in ein psychiatrisches Landeskrankenhaus. Chrissi erschrak bei solchen Gedanken.
    »Und was können wir jetzt tun?« Die Stimme der Mutter holte sie wieder in die Realität zurück.
    Sie drehte sich zu ihr um. »Wir können gar nichts tun.« Erneut rannen ihr Tränen über die Wangen. »Wenn einer etwas machen kann, dann Manuel.«
     
    Sie hatten ihn wieder aus dem Keller geholt und ihm etwas zu essen bringen lassen. Doch Gerhard Ketschmar rührte es nicht an. Stattdessen nahm er einen kräftigen Schluck Wasser, das ihm Häberle auf den weißen Tisch gestellt hatte. Manuel Traknow, nach einem anstrengenden Gerichtstag bleich und abgespannt, setzte sich neben seinen Schwiegervater und legte die rechte Hand auf dessen linken Arm. »Versuch jetzt, ganz ruhig zu bleiben.« Er spürte, wie er zitterte.
    Häberle, der beim Hereinkommen die Bürotür zuzog, nahm mit Linkohr gegenüber den beiden Männern Platz. Er erklärte, dass man sich zunächst informatorisch unterhalten und erst danach ein Protokoll anfertigen wolle. Natürlich stehe es Herrn Ketschmar frei, Angaben zu

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