Bewusstlos
»Schließlich war ich Emilio auch in den vergangenen Jahren noch treu. Bis heute. Wenn es Emilio noch gäbe, würden wir natürlich zusammen feiern, aber so geht es auch.«
Eva, der eigentlich immer etwas einfiel, war sprachlos.
Neri fiel fast in Ohnmacht, als Oma mit blauen Haaren und ihrem glitzernden Krönchen hocherhobenen Hauptes ins Zimmer marschiert kam. Er musste sich am Fernseher festhalten und starrte sie an, als sähe er ein Gespenst.
»Wie siehst du denn aus?«, stieß er mühsam hervor.
»Traumhaft, ich weiß. Wie es sich für die Hauptperson am heutigen Abend gehört.«
Neri stöhnte, und es war ihm egal, ob Oma es gehört hatte oder nicht.
Dass sie die ganze Familie mit ihrem Goldene-Hochzeit-Spleen lächerlich machte, war eine Sache. Dass sie sich aber auch noch verkleidete wie eine schwachsinnige und alterswahnsinnige Baroness, die den Verstand verloren hatte und jetzt zum Fasching ging, schlug dem Fass den Boden aus.
Diesen Abend und diese Feier würde er niemals überleben. Er hatte nichts dagegen, wenn sich die Erde auftun und ihn auf Nimmerwiedersehen verschlingen würde. Vielleicht hatte der liebe Gott ja ein Einsehen.
Neri trug einen schlichten schwarzen Anzug und hatte sich unter Gabriellas Druck zu einer grün-gelben Krawatte durchgerungen, die sich für ihn wie eine Würgeschlange anfühlte. Für dieses Affentheater fühlte er sich vollkommen overdressed.
»Donato!«, erklang Omas schrille Stimme aus dem ersten Stock, und Neri fuhr herum. Im Licht der Sonne, die durch das Fenster hereinfiel, funkelte ihr Krönchen Furcht einflößend.
»Ja?«, fragte er unwillig.
»Was hast du denn da an?«, kreischte Oma.
»Was soll ich schon anhaben?«, antwortete Neri genervt. »Meinen Schlafanzug.«
»Eben. Und ich bitte dich, zu meinem Jubeltag etwas Anständiges anzuziehen. Schließlich feiert man nicht alle Tage seine goldene Hochzeit. Und wenn mein Schwiegersohn schon ein Carabiniere ist (sie betonte das Wort ›Carabiniere‹, als würde sie ›Schwachkopf‹ sagen), dann ist deine Sonntagsuniform ja wohl das Allermindeste.«
Neri stöhnte laut auf.
»Tu ihr um Himmels willen den Gefallen, amore«, flüsterte Gabriella, die alles mit angehört hatte, »jetzt bitte keinen Streit mehr in den letzten zehn Minuten. Wir haben es schon so weit geschafft.«
Wär schön, wenn es so wäre, dachte Neri, als er widerstandslos und folgsam die Treppe hinaufging, um sich umzuziehen.
45
Um achtzehn Uhr erreichten Neri, Gabriella, ihr Sohn Gianni und Oma das Castelletto Sovrano. Sie wurden bereits von Karl und Christine erwartet. Auch Don Lorenzo war schon eingetroffen. Neri bemerkte, dass auch er ein wenig zurückzuckte, als er Omas Krönchen und die Haarfarbe sah, aber er sagte nichts und begrüßte sie herzlich und zuvorkommend.
»Möchten Sie sich noch einen Moment auf die Terrasse setzen, bis alle Gäste da sind?«, fragte Karl Neri und Gabriella.
Neri schüttelte den Kopf. Er wusste, dass er grimmig aussah, aber er konnte nichts daran ändern.
»Nein, ich denke, wir warten lieber unten an der Kapelle. Dort wird ja vielleicht irgendwo ein Stuhl für meine Schwiegermutter sein?«
»Aber sicher. Neben der Kapelle ist eine Bank.«
»Die brauchen wir nicht«, krähte Oma, »ich stehe lieber. Sonst knittert mein Kleid.«
Oma trug einen dunkelgrünen Rock aus leichtem, gut fallendem Stoff, eine hellgrüne Bluse und darüber wiederum eine dunkelgrüne Jacke, die von glitzernden Fäden durchzogen war. Die grüne Farbe dieser Kombination und das Blau ihrer Haare korrespondierten alles andere als optimal, aber wenn sie in der Sonne stand, funkelte die Jacke wie der Sternenregen eines Feuerwerks.
Wortlos gingen Gabriella, Gianni und Neri mit Oma im Schlepptau zur Kapelle.
»Warum wolltest du nicht oben warten?«, fragte Gabriella leise.
»Weil es mir reicht, wenn die blöden Fragen und Kommentare hinterher kommen. Die muss ich nicht auch schon vorher hören, sonst ärgere ich mich während der gesamten Messe.«
»So ärgerst du dich auch«, parierte Gabriella ungerührt. »Außerdem kann ich dich beruhigen. Niemand wird einen Ton sagen. Schließlich sind die Leute höflich.«
»Ich weiß, was sie denken. Das reicht.«
»Worüber redet ihr?«, wollte Oma wissen. »Gibt es noch ein Problem?«
»Aber nein, Oma, überhaupt nicht. Es ist alles wunderbar.«
»Ich finde, die Kapelle ist viel zu klein«, knurrte Oma, als sie davorstanden und hineinsahen. »Das ist keine Kirche, sondern eine
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