Bewusstlos
glauben, dass jemand deutsch mit ihm sprach, und er grinste freudig überrascht.
»Bin nur im Urlaub. Aber meine Eltern wohnen immer hier.«
Gianni nickte und flüsterte: »Ich bin Gianni.«
»Und ich Raffael. Wie kommt es, dass du Deutsch kannst?«
»Ich hatte es ziemlich lange in scuola, und dann hab ich mal einen Deutschen gekannt …« – er fing deutlich an zu zittern – »mit dem ich hab geredet und viel gelernt.«
Das Zittern wurde immer stärker, und Gianni kippte ein Glas Wein hinunter, aber es dauerte ziemlich lange, bis er sich wieder einigermaßen beruhigte.
Ganz sauber tickt der nicht, dachte Raffael, irgendwo hat er ein Rad ab, aber ich weiß noch nicht, wo. Ist ja auch egal. Vielleicht ist er einfach nur ein bisschen schüchtern oder total verängstigt.
»Wo wohnst du?«, fragte er.
»In Siena.«
»Das muss geil sein.«
Gianni zuckte die Achseln. »Es geht. Wenn man schöne Wohnung hat. Ich hab nicht.«
»Was machst du so?«
»Nichts. Ich bin krank. Mache terapia. Jede Woche zweimal.«
»Oh!« Da hatte er also gar nicht so falsch gelegen. Vielleicht war Gianni ein armer Irrer. Es war jedenfalls ziemlich beknackt, einfach so zuzugeben, dass er zu einem Seelenklempner wanderte. Damit auch wirklich jeder sofort wusste, dass er einen an der Waffel hatte.
Neri beobachtete die beiden schon seit längerer Zeit aus den Augenwinkeln. Es war großartig, dass sein Sohn so gut Deutsch konnte, und das Beste daran war, dass er endlich mal wieder mit einem jungen Menschen sprach. Seit das Schreckliche vor anderthalb Jahren geschehen war, hatte er kaum noch Kontakte, traf sich nicht mehr mit seinen früheren Freunden und kam auch nur selten nach Hause. Er igelte sich in seiner dunklen Kammer in Siena regelrecht ein.
Und jetzt sah Neri mit Freude, dass die beiden sich gut zu verstehen schienen. Das erfüllte ihn mit Hoffnung. Der Sohn der Herbrechts schien ein netter und offener junger Mann zu sein, und er, Neri, würde jedenfalls eine aufkeimende Freundschaft zwischen den beiden mit allen Mitteln unterstützen.
Gegen zehn begann sich Oma zu langweilen und verlangte, nach Hause gebracht zu werden.
Don Lorenzo hatte sich bereits unmittelbar nach dem Abendessen verabschiedet. Neri hatte ihn zum Tor gebracht.
»Das hast du verdammt gut hingekriegt, Don Lorenzo«, lobte er, »du hast dich und uns alle wirklich elegant aus der Affäre gezogen. Ich danke dir!«
Die beiden gaben sich die Hand. »Gern geschehen«, meinte Don Lorenzo, »aber ich erinnere mich an eine Situation im Winter, da habe ich dir zu danken.«
Beide mussten grinsen, Don Lorenzo winkte noch einmal kurz und verschwand in die Nacht.
Dass Oma nun zum Abmarsch blies, ließ sich Neri nicht zweimal sagen und zog Gabriella, die gerade in ein intensives Gespräch mit Claudio und Rosanna vertieft war, vom Stuhl. »Komm, cara, lass uns gehen, bevor Oma es sich noch einmal anders überlegt.«
Er reichte ihr den Autoschlüssel. »Du musst fahren, in meinem Kopf plätschert der Rotwein.«
Gabriella hatte sehr wohl registriert, dass Neri heute Abend das Mineralwasser ignoriert hatte, und sich automatisch beim Wein zurückgehalten.
Sie verabschiedeten sich von ihren Gästen, was Unruhe aufkommen ließ und einen allgemeinen Aufbruch auslöste. Die meisten übernachteten in Siena, da das Castelletto voll belegt war.
»Kommen Sie irgendwann mal vorbei, dann erledigen wir das mit der Rechnung«, sagte Karl zu Neri, »nicht heute Abend. Um diese Zeit lässt es sich nicht mehr so gut rechnen.«
Neri war einverstanden.
»Treffen wir uns mal wieder?«, fragte Raffael Gianni.
»Forse«, sagte Gianni, »vielleicht.«
Dann drehte er sich um und folgte seinen Eltern und seiner Großmutter zum Auto.
46
Karl konnte nicht schlafen.
Christine hatte, weil sie nach der Hochzeit so aufgekratzt war, eine Schlaftablette genommen und schlief jetzt fest. Sie atmete tief und gleichmäßig.
Karl sah auf die Uhr. Zehn nach zwei.
Er dachte an Paola. Den ganzen Abend hatte er von ihr nichts gehört und nichts gesehen. Neri hatte ihn und Christine an seinen Tisch gebeten, und Karl wollte nicht unhöflich sein und zu Paola gehen, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Vielleicht hätte Christine diese Fürsorge an einem Abend, an dem sie im Castelletto eine goldene Hochzeit feierten, auch gewundert.
Jedenfalls war er auf seinem Stuhl kleben geblieben, und jetzt tat es ihm leid. Wie musste sich Paola fühlen, wenn sich niemand, noch nicht einmal er, um sie
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