Bewusstlos
fast eine Kritik, und sie fragte empört: »Ach ja? Wie denn?«
»Sie war genauso blond wie du, aber die Haare waren viel, viel kürzer.«
»Und das war toll?«
»Ganz toll! Hast du schon mal kurze Haare gehabt?«, fragte er fast flüsternd.
Stella schüttelte den Kopf.
»Warum denn nicht?«
Stella zog die Schultern hoch.
»Soll ich sie dir einfach mal so schneiden, damit du aussiehst wie meine Zwillingsschwester?«
Stella strahlte und nickte heftig.
Raffael zog das Messer aus der Tasche.
Das Gespräch war gut gelaufen.
Christine fühlte sich schmutzig und klebrig und überlegte, kurz zu duschen. Bei dieser extremen Hitze und Trockenheit war man nach einer kurzen Fahrt auf den italienischen Schotterstraßen, den ›strade bianche‹, vollkommen eingestaubt. Allerdings würde sie bald mit Stella spazieren gehen, und dann schwitzte sie wieder. Es war besser, mit dem Duschen noch zu warten.
Stella – sie hatte Stella und Maria bisher noch nirgends gesehen.
Karl hatte sich eine halbe Stunde hingelegt.
Christine griff zum Telefon und wählte Marias Handynummer.
Das Handy war ausgeschaltet, nur die Mailbox sprang an.
Blöde Kuh. Wenn Maria mit Stella unterwegs war, musste sie immer erreichbar sein.
»Du musst ganz stillhalten, sonst schneide ich dir in den Hals«, sagte Raffael leise, und Stella wagte nicht mehr, sich zu bewegen.
»Meine Schwester sah aus wie ich, sie hat gedacht wie ich, sie war ich.«
Stella verstand nicht, was er meinte, aber sie fragte nicht nach, rührte und bewegte sich nicht.
Raffael nahm ein Haarbüschel in die Hand und schnitt es ab. Es waren gut vierzig Zentimeter, und er warf das Haar in den See.
Ein bisschen mulmig wurde Stella schon, als sie ihre Haare auf dem Wasser schwimmen sah, aber dann versuchte sie nicht mehr daran zu denken. Schließlich wollte sie so aussehen wie ihre Schwester, wollte ihr ähnlich werden, wollte, dass Raffael sie genauso gern hatte.
War er am Anfang noch zögerlich gewesen, so schnitt er jetzt in einem rasanten Tempo.
Stella spürte, dass ihre Haare immer kürzer wurden, aber sie versuchte, ihre innere Panik zu unterdrücken. Raffael würde böse werden, wenn sie etwas sagte. Aber auch ihre Eltern würden bestimmt schimpfen.
Sie fürchtete sich. Noch niemals hatte sie kurze Haare gehabt. Ihre Mutter liebte ihre langen, glänzenden, weichen Haare und würde ihr das nie verzeihen.
Es sei denn, sie sähe wirklich aus wie ihre Schwester.
»Warum ist sie tot, unsere andere Schwester?«, fragte Stella zaghaft.
Selbst die kleine Stella erkannte, dass Raffael augenblicklich einen irren Blick bekam.
»Warum, warum, warum?«, schrie er. »Warum willst du das wissen? Reicht es dir nicht zu wissen, dass sie weg ist? Mit ihr ist es aus und vorbei, verstehst du? Feierabend. Schluss, aus, Ende. Sie kommt nicht mehr zurück.«
Er fuchtelte mit dem Messer vor ihrem Gesicht herum und machte Bewegungen, als wolle er ihr die Kehle durchschneiden.
Stella fürchtete sich noch mehr.
»Hör auf!«, schrie sie. »Was soll das? Raffael, hör auf!«
Aber Raffael hörte gar nicht, was Stella rief, und brüllte weiter.
»Sie ist tot, verstehst du! Tot! Tot! Tot!«
Und dann schlug er die Hände vors Gesicht und weinte.
»Nicht weinen, ich bin doch da«, flüsterte sie.
Raffael beruhigte sich, lächelte und sah sie an.
»Du bist schön«, meinte er. »So schön, wie sie war.«
56
Es war kurz vor sieben, als Raffael und Stella ins Castelletto zurückkehrten.
Christine war gerade mit Cecilia in der Küche, sortierte Geschirr und Bestecke und überprüfte die Bestände der Gläser, als die beiden über den Hof geschlendert kamen.
In diesem Moment glaubte Christine, ihr Herz bliebe ste hen.
Es war, als sähe sie eine Fata Morgana.
Sie schwankte und stützte sich mit beiden Händen auf einen Stuhl, der vor ihr stand, um nicht umzufallen.
Die Bilder waren verschwunden, seit vielen Jahren, aber jetzt sah sie sie wieder in der Scheune hängen, so hilflos und schlaff, mit abgeknicktem Kopf.
Svenja. Meine kleine Svenja.
Sie kam direkt auf sie zu. An Raffaels Hand.
Christine brachte keinen Ton heraus.
»Ciao, Mama!«, rief Stella. »Stell dir vor, wir waren spazieren, und dann haben wir …«
»Was ist mit deinen Haaren passiert?«, unterbrach Christine sie scharf.
»Raffael hat sie mir geschnitten. Und jetzt seh ich aus wie seine frühere Schwester. Und er hat gesagt, er hat mich ganz, ganz lange gesucht und endlich gefunden. Und ich hab meinen Bruder
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