Beziehungswaise Roman
ihre blau geäderte Hand auf die Schulter und bittet mich, mit Tess spazieren zu gehen, bevor Sune kommt. Sie leiht Tess einen Mantel aus den Fünfzigern, der ihr ein bisschen zu klein ist, und weicht meinem Blick aus, bis wir endlich gehen.
Es ist unter null. Ein kalter Wind pfeift durch die Straßen. Die Sonne scheint wirkungslos durch einen blassgrauen Himmel. Wir spazieren die lange Allee gemächlich hoch, als wäre es ein Sommertag. In dem etwas zu kleinen Mantel und der Pudelmütze mit Bommel sieht Tess zum Anbeißen aus. Sie legt ihren Arm um meine Taille. Ich meine um ihre Schultern. So gehen wir. Zusammen.
Oben auf dem Hügel bleiben wir stehen und schauen über das Stadtviertel. Atemwolken stehen in der Luft. Über den Bäumen schweben ein paar vom Wind zerrupfte Möwen. Sogar die sehen aus, als hätten sie die Schnauze voll vom Winter.
»Weißt du, was er gesagt hat?«
Sie legt ihren Kopf in den Nacken und schaut zu mir hoch. Ich nicke.
»Heiraten, Kinder machen, nach Kopenhagen ziehen.« »So ungefähr«, sagt sie und lächelt ein kraftloses Lächeln.
»Wäre er König, wäre sein erstes Dekret, dass man Enkelkinder adoptieren kann.«
Sie lächelt wieder und nickt. Eine neue Wolke entsteht vor ihrem Gesicht. Die Wolke verflüchtigt sich so schnell wie das Lächeln. Ich lasse meinen Blick über den grauen Himmel streifen. Die Möwen stehen im Wind. Weit über ihnen zieht ein Bussard seine Kreise.
»Wieso ist er nicht im Krankenhaus, wenn es ihm so schlecht geht?«
»Er will nicht.«
»Aber ...«
»Erzähl’s ihm!«, fahre ich sie an.
Sie schaut mich überrascht an. Ich schaue wieder über die Stadt und atme ein paarmal durch.
»Entschuldige.«
Ich ziehe die Schultern hoch. Sie drückt mich. Ein Zug tutet irgendwo. Ein Vogelschwarm steigt erschrocken in die Luft. Der Bussard zieht unbeirrt seine Kreise.
»Es ist bloß ... Ich muss mit ihm darüber reden.«
Sie nickt ruhig an meiner Seite.
»Es fällt sicher keinem leicht, mit seinem Vater über so was zu reden.«
»Ja, aber ...« Ich suche nach den richtigen Worten und schlage schließlich mit den Armen aus. »Er wird sterben! Der Arzt meinte, er hat vielleicht nur noch ein Jahr ...« Ihre Augen werden größer, ihr Kinn senkt sich etwas, ihr Mund öffnet sich, aber heraus kommt nichts. Ich drücke sie an mich.
»Scheiße, tut mir leid, ich wollte es dir nicht so vor den Latz knallen.« Ich spüre, wie eine heiße Welle durch mich hindurchläuft. »Aber scheinbar ist das die verdammt einzige Möglichkeit für mich, Unangenehmes auszusprechen. Ebba ist wie eine Mutter, und was mache ich? Am liebsten hätte ich ihr verschwiegen, wie es ihrem Manngeht. Und schau uns an. Wir haben jahrelang nicht darüber gesprochen, dass wir uns immer seltener sehen und nicht mehr miteinander schlafen. Jedes Mal, wenn du weggefahren bist, habe ich mir vorgenommen, mit dir zu reden, wenn wir uns wiedersehen, doch dann habe ich nichts gesagt und gehofft, dass du auch nichts sagst, damit wir ein schönes Wochenende haben können, das ist doch totale Scheiße!«
Ich bin zu laut. Viel zu laut. Doch sie nickt.
»Du hast recht, wir hätten früher reden sollen, aber ...« Sie zögert und schaut zur Seite. »Es ist nicht so einfach, über so etwas zu sprechen.«
»Ja, aber es kotzt mich an. Ich hab das Problem ja nicht nur mit dir, ich hab’s mit allem! Ich hasse es, auf diesem Boot herumzuschippern, und weiß, dass ich ohne neues Programm nie wieder an Land komme, aber schreibe ich neue Texte? Nein, ich warte auf irgendein verdammtes Wunder. Arne zahlt seit einem Jahr keine Miete, und ich sitze blöde da und warte, bis ich pleite bin, statt ihn einfach zu fragen, was los ist, und eine Lösung zu finden. Macht das Sinn? Nein! Ich bin so verdammt passiv geworden. Ich warte nur noch, dass alles besser wird, statt dafür zu sorgen, und ... Scheiße, jetzt muss ich meinem Vater sagen, dass er sterben wird.«
Sie mustert mich mit leicht gekräuselter Stirn.
»Wie meinst du das? Pleite ...«
Ich winke ab.
»Die Sache ist die, dass ich in den letzten Jahren blöde vor mich hergelebt und mich aus allem herausgehalten habe. Ich war ja so cool, ja, aber cool ist für den Arsch. Cool hilft nicht, wenn man sich trennt. Cool hilft nicht, wenn man ...« Ich beiße die Zähne zusammen und kämpfe gegen das Gefühl an. »Wenn man ... Scheiße ...«
Ich wende mein Gesicht ab und starre über die Häuserdächerder Stadt. Stadt. Ein Sammelsurium von Schicksalen, und
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