Beziehungswaise Roman
Stunden. Die Stimmung ist fast wie immer. Aber es ist nicht wie immer. Und es wird nicht wieder wie immer. Immer ist vorbei. Der Augenblick ist das Nachwirken der Vergangenheit, eine Erinnerung an gute Zeiten, wie ein Jet, der einen Kondensstrahl hinterlässt. Wir sitzen hier, aber eigentlich sind wir schon alle weg. Hologramme. Täuschend echt. Der Zähler tickt. Ich merke, dass ich den Kopf schüttele. Es geht alles so schnell, und ich muss mich anpassen. Muss mich gewöhnen. Muss mitmachen. Aber wie soll man schwimmen, wenn eine Monsterwelle über einem zusammenschlägt und einen herumwirbelt. Erst mal irgendwie zurück an die Oberfläche und Luft holen. Aber wo ist oben?
Das Radio ist aus. Kein Swing. Wir fahren still. Die Straßen sind fast leer und von einer leichten Schneedecke überzogen. Die wenigen anderen Autos kriechen vorsichtig durch das Gestöber. Ich folge einem Flughafenbus. Tess’ Gesicht liegt an meiner Brust. Sie hat es geschafft, beim Abschied nicht zu weinen, doch als wir im Auto saßen, konnte sie es nicht länger zurückhalten. Seit Kilometern streichele ich ihren Nacken, während sie meinen Pullover durchnässt. Die Schluchzer lassen langsam nach. Sie richtet sich auf, wischt sich über die Augen und schaut aus der Frontscheibe, durch die der Flughafen näher kommt. Ihre Haare sind wieder zusammengebunden und lassen sie strenger wirken.
Sie schnäuzt sich noch einmal in das zerknüllte Taschentusch in ihrer Hand und wendet mir ihr gerötetes Gesicht zu.
»Du hast mir nie gezeigt, wo du aufgewachsen bist.« Ich schaue sie überrascht an.
»Können wir ja mal nachholen.«
»Ja«, sagt sie und wischt sich über das Gesicht. »Ich sehe ihn doch wieder?«
Ihre Stimme klingt dünn und erstickt. In ihr liegt das Flehen eines Kindes, das hören will, dass alles wieder gut wird. Aber es wird nicht alles gut. Wurde es noch nie. Umso dankbarer sollte man für die Dinge sein, die es wurden. Genau. Toll.
»Sag bitte irgendetwas«, sagt sie mit einer Stimme, die vor Anspannung flimmert.
Ich setze den Blinker und fahre von der Schnellstraße herunter, dann strecke ich meine Hand aus und lege sie ihr in den Schoß. Sie umschließt sie mit beiden Händen, hält sie wie ein Anker.
»Ich weiß es nicht. Es geht alles so schnell. Vorgestern war es noch eine Gehirnerschütterung, jetzt ist es Krebs. Vor ein paar Tagen saßen wir noch in Amerika und jetzt . .« Ich schüttele den Kopf noch einmal und nehme die Ausfahrt zum Abflugterminal. »Süße, ich weiß gerade gar nichts mehr. Er hat uns seinen Zustand jahrelang verheimlicht, und nur weil er es nicht mehr kann, erfahren wir davon. Das heißt, es geht ihm wirklich schlecht, auch wenn er versucht, alles wegzuwitzeln. Und du . .« Ich werfe ihr einen Blick zu. »Seitdem wir uns getrennt haben, sehen wir uns mehr als vorher und telefonieren ständig, und die ganze Zeit ist mir bewusst, dass ich niemanden lieber um mich habe als dich. Es ist wirklich schön, dass du jetzt hier bist.«
Ich spüre, wie mein Hals sich zuzieht, und hefte meine Augen auf den Bus. Tess rutscht auf dem Sitz nach vorne und lehnt sich etwas vor.
»Ich muss dir was sagen. Ich . . fühle mich komisch in den letzten Tagen.«
»Kein Wunder«, sage ich und werfe einen Blick rüber. Sie fährt sich mit einer Hand übers Gesicht.
»Nein, ich meine, wegen uns. Ich fühle mich wie damals«, fährt sie fort. »Wie damals, als wir verliebt waren. Glaube ich.«
Vor mir leuchten die Bremslichter des Busses auf. Ich tippe leicht auf die Bremse, um den Abstand zu halten, und werfe ihr wieder einen Blick zu.
»Glaubst du.«
Sie macht eine unwirsche Kopfbewegung.
»Ja, glaube ich. Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll, vielleicht ist es wegen dem Urlaub, vielleicht, weil du mich jetzt brauchst, vielleicht ... ich weiß es nicht.«
Sie verstummt und rutscht unruhig auf der Kante des Sitzes hin und her.
»Und wie geht es jetzt weiter?«
Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass sie die Kopfbewegung wiederholt und diesmal mit einem Kopfschütteln und Achselzucken kombiniert.
»Ich weiß es nicht, ja? Bist du jetzt zufrieden? Ich weiß es einfach nicht!«
Sie rutscht wieder ganz auf ihren Sitz und lehnt sich zurück, wie nach einem harten Job. Und dann fällt mir auf, dass es in der Tat hart ist, seinem Ex zu sagen, dass man in ihn verliebt ist, gerade wenn man vorhat, ins Ausland zu gehen. O nein. So ein Mist. Das gibt Chaos. Ärger. Stress. Wieso freue ich mich bloß so
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