Bianca Exklusiv Band 11
unter den Toaster. Die Septembersonne tauchte die Küche in gleißendes Licht und ließ ihr Haar rotgolden aufschimmern. Ja, dachte Lucy, ich bin praktisch veranlagt und ziehe das einfache Leben vor, aber ab und zu sehne ich mich auch nach etwas Aufregendem, Ungewöhnlichem.
Für solche Wunschvorstellungen blieb ihr jedoch keine Zeit, denn die Bügelwäsche wartete darauf, erledigt zu werden. Lucy ging ihre Liste durch. Kaffee und Kekse waren serviert, das gelieferte Fleisch hatte sie überprüft und in den Kühlschrank gelegt, die Wäsche war in den Schränken verstaut, und sie hatte Mrs. Knight im Bett umgedreht. Nicht auf der Liste standen Mrs. Knights zu entwirrendes Strickzeug, der Krug mit dem verschütteten Wasser und Mrs. Knights Wellensittich, der wieder in den Käfig befördert werden musste. Doch Lucy hatte auch diese Aufgaben ruhig und gewissenhaft erledigt. Alles lief glatt, wie gewohnt.
Zufrieden zog Lucy das blaue Band fester, mit dem sie ihr dichtes, schweres Haar im Nacken zusammengebunden hatte. Alle alten Leute im Park-View-Seniorenheim schwärmten von ihrem leuchtend roten Haar, aber das lag wohl an der altmodischen Art, wie sie es trug: zurückgebürstet und im Nacken zusammengehalten, so dass es ihr in weichen Wellen bis zur Taille herabfiel.
Vierundzwanzig Jahre hatte Lucy ihre Haarpracht nun schon zu bändigen versucht. Sie lächelte belustigt und stellte das Bügelbrett auf. Wenigstens hatte diese Frisur den Vorteil, pflegeleicht zu sein. Lucy konnte das Haar während der Arbeit trocknen lassen, und das war sehr wichtig. Selinas Träume mochten ja gut und schön sein, aber sie, Lucy, hatte sich schließlich um das Heim und seine Bewohner zu kümmern. Sie musste sich eingestehen, dass es in den letzten drei Wochen, seit Selina auf der Suche nach Abenteuern und Arbeit nach Italien geflogen war, im Haus sehr viel ruhiger zuging.
Jetzt tauchten hier keine jungen Verehrer mehr auf, und auch mit dem Chaos und den dramatischen Szenen in dem Schlafzimmer, das die beiden Schwestern sich geteilt hatten, war es vorbei.
Lucy nahm eine Bluse aus dem überquellenden Bügelkorb und begann, sie mit dem Eisen zu bearbeiten. Alle vermissten die temperamentvolle Selina, vor allem Lionel, der sie anbetete.
„Lucy!" rief ihr Stiefvater aus dem Gemeinschaftsraum. „Hilfe! Sie wollen mir an den Kragen!"
„Geschieht dir recht, Lionel", antwortete sie amüsiert. Ihr Stiefvater hatte seine Drohung wahr gemacht und sich über die von allen heiß geliebte Fernsehserie mokiert. Aber gegen neun Damen, darunter auch Lucys Mutter, hatte er natürlich keine Chance.
Das Gelächter, das Lionels Klageruf folgte, brachte Lucy in Versuchung, das Bügeln auf den Nachmittag zu verschieben. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, denn das Telefon klingelte.
„Die Rettungstruppen sind verhindert, Dad", rief sie zurück und schloss die Wohnzimmertür, um ungestört telefonieren zu können. „Seniorenheim Park View", meldete sie sich. „Kann ich Ihnen behilflich sein?"
„Lucy! Gott sei Dank, dass du dran bist! Ich bin in Schwierigkeiten und brauche deine Hilfe."
Nein! Nicht schon wieder, dachte Lucy. Arme Selina!
„So beruhige dich doch", sagte sie zu ihrer Halbschwester. „Und schrei mir nicht so ins Ohr, Liebes. Wo bist du überhaupt?"
„Immer noch in Italien. Am Lago Maggiore. Hast du meinen letzten Brief nicht bekommen?" fragte Selina ungeduldig.
„Doch. Du schreibst, dass alles wunderbar ist und dass du ..."
„Das ist jetzt leider nicht mehr der Fall! Hör zu, ich habe nicht viel Zeit, weil ich mich von der Arbeit fortgeschlichen habe. Ich brauche Geld, Lucy, und zwar eine Menge."
„So?" Lucy seufzte. Die flatterhafte Selina war immer knapp bei Kasse. „Kann dein Chef dir nicht einen Vorschuss auf dein nächstes Gehalt geben?"
„Pah! Massimo Mazzardi würde nicht mal seiner alten Großmutter aushelfen, geschweige denn seinen Angestellten", klagte Selina. „Außerdem ist er es, dem ich das Geld schulde. Ich zahle dir alles zurück, was du mir mitbringst, aber ich brauche es sofort."
„Mitbringst? Ich kann doch hier nicht einfach weg und ..."
„Du musst kommen, sonst dauert es mit dem Geld zu lange. Überweisungen können Tage brauchen. Bitte, Lucy, komm und hilf mir aus der Patsche." Selina begann zu schluchzen.
Lucy überlegte fieberhaft. Das klang nicht wie die üblichen Katastrophen, die Selina mit ihrer Leichtsinnigkeit laufend heraufbeschwor. Mit ihrem lockigen blonden Haar, ihrer
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