Bibel der Toten
angehört, wie sägende, schnarrende, raspelnde Zikaden.«
Chemda wandte kurz den Blick ab und beobachtete zwei barfüßige Jungen, die am blutigen Eis eines der Fischstände nuckelten; dann richtete sie ihre ernsten dunklen Augen wieder auf Jake.
»Wahnsinn pur«, murmelte Jake. »Unvorstellbar. Aber trotzdem, warum sollten sie dieses Experiment an Samnang wiederholt haben?«
»Es sollte eine Botschaft sein. Irgendjemand wollte damit mir beziehungsweise uns etwas sagen. Uns Angst einjagen oder warnen oder uns an die Gräuel Pol Pots erinnern. Genau weiß ich das auch nicht. Aber Tou kennt diese Einzelheiten nicht. Und wenn er Samnang wirklich hätte umbringen wollen, hätte er es sicher nicht auf eine so bizarre Weise getan. Ein normaler Mord ist es mit Sicherheit nicht. Niemand stirbt ohne Grund so. Auf derart brutale Weise. Sie versuchen mit allen Mitteln, mich dazu zu bringen, wieder abzureisen. Ist ja auch klar. Sie wissen schließlich ganz genau, was ich vorhabe – dass ich die Barbarei der Roten Khmer aufdecken will. Deshalb wollen sie mich zum Aufgeben bringen. Aber ich gebe nicht auf.«
Über ihre Züge legte sich finstere Entschlossenheit.
Jake schlug die bedrückende Umgebung zusehends aufs Gemüt. »Wie wär’s mit einem kleinen Ortswechsel?«, schlug er deshalb vor. »Könnten wir vielleicht woandershin gehen, Chemda? Irgendwohin, wo es weniger Ratten gibt.«
Sie verließen den markt und gingen eine Seitenstraße hinunter zur Hauptstraße. Dort war es inzwischen noch voller und hektischer geworden. Jetzt waren fast nur noch Hmong unterwegs, die Frauen größtenteils in Festtagskleidung.
Eine Weile beobachteten Jake und Chemda das Treiben stumm: die Gruppen zierliche Seidensonnenschirme wirbelnder junger Mädchen, die von gockelhaften jungen Männern in schlechtsitzenden Anzügen umschwärmt wurden. Chemda beantwortete Jakes Frage, bevor er sie stellte.
»Nein, sie putzen sich nicht immer so festlich heraus. Zurzeit ist gerade das Neujahrsfest der Hmong: die wichtigsten drei Tage im Leben der jungen Mädchen, die in dieser Zeit ihre künftigen Ehemänner kennenlernen.«
»Dann …«
»Die Hmong sind sehr traditionsbewusst. Animistisch … Moment mal … ist das nicht … schau mal, dort drüben?«
Sie deutete und versuchte gleichzeitig, nicht zu deuten. Jakes Blick wanderte über das hektische Treiben, über die Sonnenschirme und die Pick-ups, über die chinesischen Nudellaster und die klimpernden Silbermünzen an den sommerlichen Kleidern.
Ein Stück die Straße hinunter stand, zwischen zwei großen Jeeps halb verborgen, ein kleiner jungenhafter Mann, der ihnen unauffällig zuwinkte.
»Das ist Tou«, flüsterte Chemda.
Das ist Tou?, dachte Jake erstaunt. Er war fast noch ein Junge. Und das sollte der Führer sein, von dem Erfolg oder Misserfolg ihrer Expedition abhingen? Das sollte der Hauptverdächtige für den Mord an Samnang sein? Die Vorstellung barg eine gewisse Absurdität: Der junge Laote wirkte eher wie ein Straßenjunge, nicht wie ein brutaler Mörder.
Tous Lächeln war gequält; sein Hemd war schmutzig und zerschlissen; sein junges Gesicht wirkte tapfer und aufgeregt. Er schien verängstigt.
Tou schaute kurz in beide Richtungen, dann verschwand er in der Menge. Wenige Sekunden später tauchte er direkt hinter ihnen wieder auf und redete in hastigem, bruchstückhaftem Englisch auf sie ein.
»Schnell, kommen Sie, Chemda – schnell!«
Er taxierte Jake mit nervösen Blicken.
»Nein, nein, keine Sorge«, sagte Chemda. »Jake ist ein Freund. Er gehört zu mir. Was ist passiert? Bei dir alles okay? Ich weiß, die Polizei …«
»Chemda, ich habe gesehen, was Sie suchen.«
»Was?«
»Ein Gestreifter Hmong!«, antwortete Tou aufgeregt. »Einer von ihnen kommen gestern zu mir, ein alter Hmong-Mann. Und er erzählt … er erzählt Geschichten von Roten Khmer, wie sie in siebziger Jahre hier waren. Und andere. Ich erzähle alles gestern Nacht Doktor Samnang. Doktor Samnang war traurig und weint, und ich bin weglaufen …«
»Was für Geschichten?«
»Chemda, ich Ihnen besser zeigen. Wir müssen uns beeilen, aber …« Er hob einen Finger, um sich ihres Stillschweigens zu versichern. »Ich Ihnen zeigen.«
»Was willst du uns zeigen?«
»Ich Ihnen zeigen, was Rote Khmer gefunden. Vor vielen, vielen Jahre. In Ebene der Tonkrüge.«
6
C hemda, warum willst du dieses Risiko eingehen? Warum lässt du es nicht einfach sein und fährst wieder nach Hause zurück?«
Sie antwortete
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