Bibel der Toten
zutiefst verstörende Konfrontation mit schwarzer Magie – das hatte ihr den Rest gegeben.
Wenn Jake ganz ehrlich war, war dieses Erlebnis allerdings auch ihm gewaltig an die Nieren gegangen. Als ob ihn jemand mit seinen schlimmsten Ängsten und Schuldgefühlen quälen wollte. Das tote Baby mit den grotesk verdrehten weißen Augen.
Um dieses hartnäckig wiederkehrende Bild aus seinem Kopf zu vertreiben, blickte er sich um – Agnès Marconnet war wieder in den Garten gekommen und schaute nervös zu ihnen hinüber. Auch der Hotelbesitzerin hatte der entsetzliche Fund schwer zugesetzt, und sie versuchte ständig, sich für den Vorfall zu entschuldigen und eine Erklärung dafür zu finden. Wer hatte diese schrecklichen Dinger in ihre Zimmer gehängt? Mais pourqoui … c’est pas croyable … Mes propres employés? Je suis vraiment désolée …
Während er sich noch, ganz in Gedanken versunken, im Garten umschaute, sah Jake plötzlich durch die Bäume hindurch auf der Straße vor dem Hotel ein Polizeiauto stehen. Was hatte dieses Polizeiauto hier zu suchen? Seit wann stand es dort? Seit ein paar Minuten? Was machte der Polizist, der darin saß und in sein Funkgerät sprach? Und mit wem sprach er?
»Okay. Ist ja auch egal. Aberglauben oder nicht, Chemda, wir müssen los. Sofort!«
Er neigte bedeutungsvoll den Kopf zur Seite. Chemda spähte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung des Polizeiautos.
»Wie lang steht es schon dort?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat sie jemand wegen der … Talismane verständigt. Komm, nichts wie weg hier.«
»Aber wohin? Mit dem Auto dauert es viel zu lang, und die Straßen sind furchtbar schlecht. Da brauchen wir zwei, drei Tage, um außer Landes zu kommen. Und fliegen können wir nicht.«
»Hol einfach deine Sachen.«
Ihr Gepäck lag immer noch auf einem kleinen Wagen im hinteren Teil des Hotels. Ein melancholisches Durcheinander kleiner Rucksäcke, verdreckt und abgerissen. Ein Geräusch ließ Jake herumfahren. Der Polizist stieg aus dem Auto und warf die Tür hinter sich zu. Das Rauschen eines Funkgeräts ertönte.
Der Polizist ging auf den Eingang des Hotels zu. Er klopfte; er redete mit jemandem.
Jake und Chemda standen, von den Bäumen verdeckt, im Garten – wie gelähmt. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, das Hotelgelände unbemerkt zu verlassen. Und dann erschien auf der schmalen Zufahrtsstraße ein zweites Polizeiauto, sein Blaulicht im tropischen Sonnenschein sinnlos blitzend.
Agnès kam zu ihnen gelaufen. Sie hatte ihr Gepäck dabei. Ihre Stimme zitterte, als sie in stammelndem Französisch auf Chemda einredete.
Chemda übersetzte für Jake.
»Sie sagt, dass jemand die Polizei verständigt hat, wegen der … kratha . Wer, weiß sie nicht. Möglicherweise eins der Zimmermädchen. Sie sagt, ihr Mann hält die Polizei an der Tür auf, aber wenn nötig, werden sie sich auch mit Gewalt Zutritt ver…«
»Wir sitzen also in der Falle.«
»Nein.« Chemda sah Agnès an – und Agnès nickte. »Es gibt einen Pfad, hier unten, am Fluss entlang; er führt um den Wat herum. Wir können der Polizei entwischen, wenn wir …«
Jake befand sich am Rand der Verzweiflung. Das war doch auch keine Lösung, auch dieser Weg würde sie nur zurück nach Luang Prabang führen. Aber er wusste, dass sie keine andere Wahl hatten.
»Okay. Dann schnell.«
Sie schnallten sich hastig die Rucksäcke um. Chemda verabschiedete sich von Agnès, und dann liefen sie los, zwischen den Tamarinden hindurch zum Fluss hinunter, wo der Rasen abrupt endete und in einer steilen Böschung, die sie auf allen vieren hinabkletterten, zum Ufer abfiel.
Jake kamen schon jetzt massive Zweifel am Sinn ihrer Flucht. Fürs Erste wären sie auf dem Uferweg zwar sicher vor der Polizei, aber sie müssten in jedem Fall wieder in die Stadt zurück, wo sie, besonders er als Ausländer, sofort entdeckt und festgenommen würden.
Der Uferweg führte an einem Bootssteg vorbei, auf dem Fischer in der Sonne ihre Netze flickten. Jake blickte sich um.
Der Fluss. Der Steg. Der Fluss.
Er betrachtete die langen, schmalen Boote. Und plötzlich blitzte auf den dunklen Wellen des Mekong eine Idee auf.
»Chemda. Warte!«
Sie ging ein Stück vor ihm und drehte sich um.
»Wie wär’s, wenn wir es auf dem Fluss versuchen würden?«, stieß Jake aufgeregt hervor. »Er führt doch nach Thailand? Irgendwann jedenfalls.«
Ihre Miene verdüsterte sich, aber schließlich erhellte sie sich wieder. Ein wenig zumindest.
»Er …
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