Bibel der Toten
nahegestanden hatte. Zudem hatte sie diesen Mord einigermaßen rationalisieren können. Es war ihr gelungen, sich einzureden, dass Ghislains Tod trotz all seiner Grauenhaftigkeit eine einmalige Angelegenheit gewesen war. Eine ehemalige Geliebte vielleicht, die sich mit dieser Wahnsinnstat hatte rächen wollen. Oder ein eskalierender Raubüberfall.
Aber Annika? Julia mochte sie; sie waren gute Freundinnen gewesen. Deshalb ging Julia dieser Mord sehr nah; und er zwang sie zu weitreichenderen und wesentlich beängstigenderen Überlegungen.
Die morde.
Der brutale Mord an Annika, der auf den brutalen Mord an Ghislain gefolgt war. Das deutete zweifellos auf einen Zusammenhang, auf eine Serie von Verbrechen hin – die vielleicht etwas mit diesen rätselhaften Geheimnissen zu tun hatte. Und eine Verbrechensserie hieß auch, dass weitere Verbrechen folgen würden. Dass es zu weiteren Morden kommen würde. Julia schauderte.
Rouvier rührte bedächtig in seinem Kaffee.
Sie saßen in einer stillen Ecke des gut besuchten Coffeeshops. Julia hatte als Treffpunkt den Starbucks an der Gare du Nord vorgeschlagen, weil sie wusste, dass Rouvier anschließend mit dem Zug nach London fahren wollte. Sie hatte sich auch deshalb ganz bewusst für den Starbucks entschieden, weil er so normal und vertraut und nicht französisch war und weil er sie an Michigan erinnerte.
Das war, wonach sie sich im Moment sehnte. Michigan, College-Football, Meat Loaf, Tim Horton’s. Und am nächsten kam dieser Sehnsucht ein Coffeeshop: die Sofas, die Speisekarten, die riesigen, viel zu süßen Zimtschnecken. Sie hatten so etwas tröstlich Amerikanisches. Etwas langweilig Sicheres. Schulessen für die Seele.
Rouvier schaute sie wissend an.
»Miss Kerrigan, ich glaube nicht, dass der Mörder es auf Sie abgesehen hat.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Lesen Sie doch die E-Mail noch mal.«
Sie griff nach dem Blatt Papier.
Chère Julia …
Julia versuchte, so gut es ging, alle Emotionen aus dem Spiel zu lassen, als sie sich auf das Rätsel einließ und die ihr vorliegenden Informationen zu zerpflücken begann. Und diesmal ließ sie sich mehr Zeit. Sie gab sich große Mühe, den verborgenen Sinn hinter den Zeilen zu erfassen, während sie gleichzeitig versuchte, Annikas wachsende Angst, die sich an der zunehmenden Fehlerhaftigkeit ihrer Sätze und Rechtschreibung ablesen ließ, auszublenden. Die E-Mail ließ keinen Zweifel daran, dass ihre Freundin heftig aufgewühlt gewesen war, als sie sich dieses Geständnis abrang. Aber was hatte sie in Erwartung des nahenden Todes, den sie fast herbeigesehnt zu haben schien, noch beichten wollen? Was genau war damals in Kambodscha passiert?
Julia legte das Blatt Papier neben ihren unangetasteten Cappuccino. Gegen ihren Willen lief plötzlich vor ihrem geistigen Auge die Szene ab, die sich in Annikas Häuschen auf der Cham des Bondons abgespielt haben musste, als ihre Freundin diesen Text schrieb. Und dann ihre Ermordung; wie sie mit dem Kopf gegen einen Menhir geschmettert wurde. Mühsam gegen Tränen ankämpfend, sagte Julia langsam: »Dieser Wissenschaftler ist mir vage bekannt. Hector Trewin. Er ist – beziehungsweise war – sehr alt, ein marxistischer Anthropologe am Balliol College. Hoch angesehen auf dem Höhepunkt seiner Karriere, in den sechziger und siebziger Jahren, in Wissenschaftskreisen sogar eine Berühmtheit.«
Rouvier nickte. »Ja. Da bin ich gerade dran. Ich treffe mich heute zu diesem Zweck mit ein paar Kollegen von der englischen Polizei. Zudem liegen uns inzwischen noch andere Beweise vor, dass Annika neuman und Trewin sich kannten.«
»Tatsächlich?«
»Hier. Sehen Sie sich mal dieses Foto an.« Rouvier griff nach seinem Aktenkoffer. Er entnahm ihm ein großes gescanntes Farbfoto und legte es vor Julia auf den Tisch. »Das haben wir in Mademoiselle Neumans Unterlagen gefunden.«
Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Klassenfoto: eine Gruppe von Leuten, einige sitzend, einige stehend, alle in die Kamera lächelnd.
Das Foto war offensichtlich in den siebziger Jahren aufgenommen worden. Es triefte nur so vor Nostalgie: weite Schlaghosen, breite Krawatten, die Frauen in kurzen bunten Kleidern. Die Gesichter waren größtenteils jung, voller Hoffnung und Wissbegier, strotzend vor Idealismus, und alle kniffen wegen der Sonne die Augen zusammen. Vor vielen, vielen Jahren.
Julia griff nach dem Foto. Da, hier war Annika. Schön, blond, flämisch-belgisch, in einem Sommerkleid und
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