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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Sandalen. Ghislain, der neben ihr stand, hatte halb stolz, halb verlegen den Arm um sie gelegt. Seine Haare sahen nicht lächerlich aus. Julia beugte sich tiefer über das Foto und versuchte zu erkennen, wo es aufgenommen worden war. Die Sonne war tropisch grell. Hinter der Gruppe war eine seltsam verlassene Großstadtstraße mit fernen Palmenschatten zu sehen. Es war eindeutig in Kambodscha, einer der trostlosen, menschenleeren Boulevards von Phnom Penh. Wie konnten sie da lächeln?
    »Ja«, sagte Rouvier. »Dieses Foto wurde 1976 in Phnom Penh aufgenommen, ein paar Monate nach dem Jahr null; der Genozid hatte bereits begonnen. Ziemlich verstörend, nicht?«
    Der Polizist legte einen Finger auf das Foto. »Das hier ist Hector Trewin.«
    Julia runzelte die Stirn. Das Gesicht kam ihr vage bekannt vor. Es weckte ferne Erinnerungen an Lehrbücher, vielleicht an eine alte, schwülstig hochtrabende BBC-Fernsehsendung. Trewin war älter als die meisten anderen auf dem Foto, aber auch er lächelte. Sein Lächeln war sogar noch strahlender.
    »So«, sagte Julia. »Sie waren also alle in Kambodscha. Wie Annika geschrieben hat. Aber …« Julia blickte auf die E-Mail. »Aber was hat sie damit gemeint? Dass es sich bei den Morden um einen Racheakt gehandelt haben könnte?«
    »Mademoiselle Neumans Schlussfolgerungen sind, zumindest für mich, vollkommen klar.« Rouvier legte seine Fingerspitzen auf das Foto und drückte es behutsam nieder. »Trewin wurden an verschiedenen Körperstellen starke Stromschläge versetzt, als er noch lebte. Erst danach wurde er mit einem Schlag auf den Hinterkopf getötet, den ihm der Täter mit einer Metallstange verpasste. Viele Opfer der Roten Khmer wurden auf genau diese Art und Weise gefoltert und dann getötet.«
    Das Rätsel verdichtete sich; die Logik nahm Gestalt an.
    »Sie meinen … der Mörder ist … ein Kambodschaner? Jemand, der den Terror der Roten Khmer überlebt hat?«
    »Das halte ich für sehr wahrscheinlich.«
    »Langsam verstehe ich. Der Mörder rächt sich an diesen alten Akademikern, alte Kommunisten, die 1976 nach Phnom Penh gereist sind und das Regime unterstützt haben. Es geht um Rache! Natürlich!«
    »Danach sieht es jedenfalls aus. Ja.«
    Diese Lösung erfüllte Julia sogar mit einer gewissen Befriedigung. Endlich begann sich nach all dieser unverständlichen, scheinbar vollkommen willkürlichen Gewalt so etwas wie ein Sinn abzuzeichnen. Die Morde waren nichts weiter als ganz gewöhnliche Racheakte, die ein Opfer des grausamsten aller kommunistischen Regimes an alten Kommunisten aus dem Westen begangen hatte. Fast konnte sie es verstehen; fast konnte sie es nachempfinden. Wenn der Mörder nur nicht mit unglaublicher Brutalität ihre Freundin und ihren Chef umgebracht hätte.
    Auch aus sehr hartherzigen und egoistischen Gründen gefiel ihr diese Erklärung. Weil sie bedeutete, dass sie selbst nicht in die Sache involviert war. Sie war kein potenzielles Opfer. Die grausigen Morde hatten nichts mit ihrem Job und ihrem Fund zu tun, mit den Schädeln und Knochen.
    Dessen ungeachtet beharrte eine leise, aber hartnäckige innere Stimme darauf, dass die Schädel und Knochen sehr wohl etwas damit zu tun hatten. Annika hatte sie in ihrer Mail ausdrücklich erwähnt. Bestand also doch ein Zusammenhang? Und wenn dem so war, wäre auch sie in die Sache verwickelt.
    Julia war kaum schlauer als zuvor, und sie hatte jetzt wirklich Angst; sie nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino.
    Rouvier beugte sich zu ihr vor. »Selbstverständlich ist das noch nicht alles. Es gibt viele Aspekte dieser Morde, die mir weiterhin ein Rätsel sind.«
    Der Kaffee wurde bereits kalt.
    »W-was für Aspekte?«, stotterte Julia.
    »Zum einen wäre da die erstaunliche Geschicklichkeit, mit der der Täter in das Haus eingedrungen ist, die ungeheure Kraft, die erforderliche Gelenkigkeit – wir glauben, dass sich der Mörder durch ein kleines Fenster Zutritt zu Mademoiselle Neumans Haus verschafft hat.«
    Julia konnte sich an das Fenster erinnern. Es war tatsächlich klein. Wie war der Mörder da durchgekommen? Eine schlanke junge Frau wäre dazu vielleicht in der Lage gewesen oder ein Junge – oder ein zierlicher asiatischer Mann.
    »Sie glauben, dass es eine Frau war?«
    Rouvier lächelte anerkennend, als wäre Julia eine ältere Tochter, die ihm eine kluge Frage gestellt hatte.
    »Ein außerordentlich wichtiger Punkt. Unsere einzige verlässliche Personenbeschreibung deutet auf eine auffallend blasse Frau

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