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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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    » Aw kohn , schnell!«
    Er brauchte jetzt keinen Dank, und dass sie keine Zeit verlieren durften, wusste er selbst. Hand in Hand rannten sie los, hetzten die schmale Durchfahrt hinunter, an den Jackfruchtbäumen vorbei, die verdreckten Gassen entlang und die Feuerleiter hinauf in die Wohnung zurück. Zwei Minuten. Chemda riss ein T-Shirt in Streifen und verband ihm damit den Kopf; dann säuberte er sich im Bad notdürftig und stopfte seine wenigen Sachen in eine Tasche. Chemda war im Wohnzimmer und telefonierte, ratterte auf Khmer hastige Fragen herunter. Dann schaute sie in Jakes Richtung. »Los!« Und schon stürmten sie auf den Vorplatz hinaus und zur Straße: zwei hilflose Flüchtlinge, die mit ihren Reisetaschen am stark befahrenen Highway 6 standen, wo weiß Gott wer vorbeikommen und sie sehen konnte. Doch dann hielt ein altes schwarzweißes Citroën-Taxi mit quietschenden Reifen am Straßenrand, und der Fahrer grinste sie mit seinen letzten sechs Zähnen an.
    Chemda sprang auf den Rücksitz und sagte: »Siem Reap.«
    Der Mann hob die Hand, als wollte er sagen: Wahnsinn – nach Siem Reap?
    Jake wusste, es war eine weite Strecke – zweihundert Kilometer nach norden, durch den Dschungel, in die Nähe von Angkor. Sie wären einen ganzen Tag lang unterwegs. Doch die zunächst skeptischen Augen des Taxifahrers verengten sich rasch zu bauernschlauem Einverständnis, als er Chemda ein Bündel Dollarscheine aus ihrer Tasche holen sah: Zehner, Zwanziger, Hunderter.
    »Siem Reap, baat !«
    Das Taxi schlängelte sich durch den Verkehr, der sich rasch lichtete, als sie den urbanen Wildwuchs am Stadtrand erreichten.
    Zitternd und schwitzend schaute Jake immer wieder durch das Rückfenster. Nichts. Nichts als Autos. Sie fuhren an Caltex-Tankstellen, Happy-Cellphone-Shops und schmutzstarrenden Kfz-Werkstätten vorbei und dann an weiteren Caltex-Tankstellen, Happy-Cellphone-Shops und Reifengeschäften; es war wie der Hintergrund eines billigen Zeichentrickfilms, der sich ständig wiederholte. Dann kamen ein alter französischer Laden, an dessen Seite Dépôt de pharmacie stand, ein Sukisoup-Outlet, ein unbebautes Grundstück und das skelettartige Bambusgerüst eines halbfertigen Wohnblocks – und dann, endlich, die ersten Wasserbüffel und Reisfelder und Zuckerpalmen, die ihre Köpfe senkten wie Höflinge, die sich vor einem despotischen Herrscher verneigten.
    Die majestätische Sonne.
    Sie hatten es geschafft, aus der Stadt zu entkommen, und waren jetzt im ländlichen Kambodscha, dem Land der zwei Jahreszeiten und zwei Ernten und zwei Millionen Toten, dem Land der Killing Fields.
    »Das Geld ist von meiner Mutter«, sagte Chemda. »Ich habe es einfach genommen.«
    Jake zuckte mit den Achseln und antwortete nicht. Er wusste nicht einmal, ob ihn das interessierte oder ob er etwas darauf erwidern sollte. Wenn er ihr antwortete, hätte das einen Dialog bedeutet, und ein Dialog bedeutete ein Gespräch, und ein Gespräch bedeutete, dass sie vielleicht über das sprechen müssten, was gerade passiert war. Chemda wäre beinahe von einem alten Mann vergewaltigt worden. Von einem alten Mann, der – was? – verändert worden war? Von einem alten Mann, der dem gleichen entsetzlichen Eingriff unterzogen worden war wie Chemdas Großmutter und wer weiß wie viele Menschen sonst noch.
    Nahm das denn gar kein Ende mehr? Das Leid in Chemdas Leben türmte sich wie die Pyramiden aus zerschmetterten Schädeln in Cheung Ek. Und es ging hier nur um Chemdas Familie. In Kambodscha gab es noch eine Million weiterer Khmer-Familien, von denen jede ihre eigene kleine Schädelpyramide hatte. Kein Wunder, dass es so viele neak ta gab: so viele Käfige für die nicht zur Ruhe gekommenen Toten.
    »Erinnerst du dich noch, was Ponlok gesagt hat? Da fragt man sich natürlich schon … mit wem sie sonst noch solche Experimente durchgeführt haben. Sehr viele meiner Cousins und Cousinen haben diese schreckliche Zeit nicht überlebt.«
    Ihr Blick war geradeaus nach vorn gerichtet; ihre Augen glänzten im Profil. Sie fuhren durch ein kleines Dorf. Die Frauen am Straßenrand, die zu dem ungewohnten Auto aufschauten, trugen lose Turbane aus traditionellen Khmer-Tüchern, den gestreiften oder karierten Baumwoll-Krama, die als Schlingen, Kopfbedeckungen, Babytragetücher, Lunchpakete oder Ponchos verwendet wurden. Die Blicke der Frauen waren finster. Halbnackte Kinder spielten im Dreck.
    Sie fuhren zu schnell. Aber das störte Jake nicht. Er wollte

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