Bibel der Toten
konnte. Aber er wusste nicht, warum. Er musste an die Spinnenhexe mit ihren schwarzen Zähnen denken. An ihr Gebrabbel und ihre Flüche, an ihren geschmacklosen Pullover mit dem türkisfarbenen Paillettenherz. Kali, die Menschenfresserin.
»Könnte das der Grund sein, warum die Roten Khmer diese grauenhaften Experimente durchgeführt haben?«, fragte Chemda. »Wollten sie damit eine Veränderung des menschlichen Verhaltens bewirken? Die Menschen brutaler und gewissenloser machen? Wie wilde Tiere?«
»Schon möglich.« Jake hatte bereits in diesen Bahnen zu denken begonnen. »Aber wie kann sich jemand freiwillig für so ein Experiment zur Verfügung stellen? Wie deine Großmutter zum Beispiel?«
Chemda atmete aus. »Das ist die große Frage. Warum macht jemand so etwas. Das ergibt einfach keinen Sinn. Aber wir könnten meinen Onkel fragen. Vielleicht kann er uns weiterhelfen.«
»Dein Onkel?«
»Der Bruder meines Vaters. Tek Sonisoy. Er arbeitet in Siem Reap, wo wir gerade hinfahren. Er ist Wissenschaftler. Konservator.«
»Aber …«
Chemda hob ihre dunkle und doch irgendwie blasse Hand und legte ihren Zeigefinger senkrecht an seine Lippen.
»Er hat sich schon vor Jahren von meiner Familie losgesagt. Vom Reichtum, von der Macht und der Politik. Er hält nichts von meinem Großvater, kann meine Mutter nicht ausstehen, hasst die ganzen politischen Machenschaften. Er hat, wie ich, einige Zeit in Kalifornien gelebt; irgendwann wollte er dann nichts mehr mit meiner Familie zu tun haben und ist mit dem Rucksack um die Welt gereist, um schließlich in Kambodscha hängenzubleiben. Eine Weile hat er als Mönch in einem Kloster gelebt, aber inzwischen arbeitet er in Angkor. Wir verstehen uns sehr gut. Er hat mir früher schon mal geholfen. Bei meinen Recherchen über die Ebene der Tonkrüge. Wir haben uns gemailt, aber ich habe ihm nicht alles erzählt.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihn nicht auch noch damit belasten wollte. Ihm ist das alles zutiefst zuwider, und im Grunde genommen dreht sich sein ganzes Leben nur darum, der Vergangenheit zu entkommen. Der jüngsten Vergangenheit. Aber unter diesen Umständen bleibt mir keine andere Wahl mehr, als ihn um Hilfe zu bitten. Ich vertraue ihm … vorbehaltlos. Bei ihm können wir bestimmt eine Weile unterkommen.«
»Aber wird sich denn dein Großvater nicht denken, dass wir uns an ihn wenden?«
»Früher oder später wird er wahrscheinlich darauf kommen, aber ich bin nicht mal sicher, ob mein Großvater überhaupt weiß, dass Sonisoy in Kambodscha ist. Woher auch?«
Jake setzte sich zurück. Er blickte auf seine leeren Hände hinab. Plötzlich wurde ihm sehr intensiv der Verlust seiner Kameras bewusst. Sie waren bei dem Brand zerstört worden. Was konnte er ohne sie überhaupt noch tun? Wie sollte er jetzt die Welt vermitteln und verstehen? Was war er ohne seine Kameras überhaupt noch? Jake Thurby, der Fotograf? Nicht mehr. Nur ein Mann auf der Flucht, mit einem Mädchen.
»Wir können unmöglich länger in Siem bleiben, Chemda. Höchstens ein paar Stunden. Wir müssen zusehen, dass wir schnellstens nach Thailand kommen.«
»Okay, aber darüber können wir uns Gedanken machen, wenn wir bei Sonisoy sind. Außerdem, ich muss … mich unbedingt ausruhen. Bitte, nur eine Nacht?«
Nur eine Nacht. Das hörte sich so einfach an. War es aber nicht. Es bedeutete eine Verlängerung ihrer Flucht und weitere Risiken und Gefahren. Jake sah jedoch auch keine andere Möglichkeit, diesem endlosen Schrecken zu entrinnen. Siem Reap lag auf dem Weg nach Thailand. Und in Thailand wären sie in Sicherheit. Oder vielleicht doch nicht?
Das reiche, fortschrittliche, relativ zivilisierte Thailand.
Über die Grenze zu kommen, würde nicht ganz einfach sein, aber in Laos hatten sie es auch geschafft, und sobald sie in Thailand waren, konnte er endlich verschnaufen – und die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage erst einmal verarbeiten. Außerdem konnte er gut verstehen, dass Chemda etwas Ruhe brauchte. Sicher steckte ihr die Attacke des alten Manns mit der grässlichen Vertiefung in der Stirn noch in den Knochen. Dagegen war die Schnittwunde in Jakes Stirn eine Lappalie.
Es war zwar nur eine Fleischwunde, aber sie brannte schmerzhaft. Jake zuckte zusammen, als er an den provisorischen Stirnverband fasste, den Chemda ihm angelegt hatte. Dann blickte er wieder in das von Palmwedeln gezahnte Sonnenlicht hinaus.
Zwei Stunden später, als die Dämmerung die Landschaft endlich von der
Weitere Kostenlose Bücher