Bibel der Toten
mit einer Fellatio weckte; und es war wundervoll. Jake kämpfte gegen das schöne Gefühl in seinem Traum an; er war inzwischen halb wach, ja, er konnte sie jetzt sehen im nächtlichen Dunkel des über dem Tuchladen gelegenen Zimmers in der Altstadt von Siem Reap; es war Chemdas Kopf dort unten über seinem Unterleib.
»Chemda, Chemda …« Er wollte richtigen Sex. Penetration. Er packte ihren Kopf, hob ihn von seiner Erektion, und sie schaute zu ihm hoch, und ihre blitzenden Augen lächelten – aber es war seine Mutter, die an ihm lutschte. Seine Mutter. Und sie lächelte.
Handlungsunfähig vor Entsetzen, wachte er mit heftigem Muskelzucken auf. Erst jetzt war er richtig wach. Es war nur ein Traum gewesen, ein Klartraum. Schaudernd blickte er sich um. Der Tag schien noch kaum angebrochen. Sprossen aus fahlem und nicht verbleichendem Blau ließen die Lamellen der Fensterläden von Sonisoys Wohnung erkennen.
Wo war Chemda?
Jake strich mit der Hand über das leere Bett.
»Chemda …« Er spürte, wie sich die Traumfragmente verflüchtigten, aber er sah weiter das Bild seiner Mutter, einen körperlosen Kopf, und von irgendwoher tropfte Blut, das Bild Kalis, der Mutter der Zerstörung.
»Hallo.«
Chemda kam ins Zimmer. Sie war angezogen und sah ihn stirnrunzelnd an.
»Chemda. Alles okay?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Ich konnte nicht richtig schlafen. Ist ja auch kein Wunder, nachdem ich das alles über meinen Vater erfahren habe. Wir haben noch lange geredet, Sonisoy und ich.« Ihre Hände verharrten seitlich an ihren Hüften, ungeduldig oder wachsam – wie bei einem Western-Revolverhelden vor dem Showdown. »Er möchte uns in Angkor Wat etwas zeigen.«
»Was?«
»In zehn Minuten treffen wir uns unten vor dem Eingang. Pack schnell deine Sachen.«
Gehorsam warf er sich ein Handtuch über die Schulter und ging ins Bad. Er musste dringend duschen.
Chemda blieb an der Tür stehen, beobachtete ihn und betrachtete seine Nacktheit. Und ganz kurz blitzte in ihren Augen Lust auf, er sah es genau: fleischliches Verlangen. Kali, die Menschenfresserin mit ihren sieben schwarzen Zungen.
Sie winkte ihn in Richtung Bad.
»Bitte, Jake, wir müssen uns beeilen …«
»Hast du nicht gesagt, hier hätten wir nichts zu befürchten? Eine nacht lang?«
»Habe ich gesagt – und auch gedacht –, bis ich das über meinen Vater gehört habe. Jetzt frage ich mich: Ist meine ganze Familie verflucht, möchten sie uns alle tot sehen? Langsam verstehe ich überhaupt nichts mehr. Offenbar ist es tatsächlich so, dass alles noch viel schlimmer war, als wir uns vorstellen können …«
»Sehen wir lieber zu, dass wir schnellstens nach Thailand kommen!«
»Aber vorher möchte ich noch sehen, was uns Sonisoy zu zeigen hat. Danach versuchen wir, nach Thailand zu kommen.«
»Und Sonisoy? Können wir ihm wirklich trauen?«
»Wenn er auf ihrer Seite stünde, hätte er uns längst verraten. Ich habe dir doch gesagt, ich traue ihm mehr als sonst irgendeinem Menschen. Außer dir natürlich.« Ihr Blick blieb auf ihm ruhen, als sie fortfuhr: »Deshalb, beeil dich bitte. Sonisoy bringt uns nach Angkor. In zehn Minuten.«
Jake brauchte zwei Minuten, um zu duschen, sich abzutrocknen und sich anzuziehen. Dann packte er im Schlafzimmer seine Tasche: zwei Jeans und mehrere T-Shirts, die er auf dem Nachtmarkt von Siem Reap gekauft hatte, eine kleine Kamera, ebenfalls vom Markt, dann sein Pass, das Handy und die Kreditkarten. Er stierte nachdenklich auf das Handy und nahm es wieder aus der Tasche.
Jake wählte eine Nummer. Er musste jetzt unbedingt eine vertraute Stimme hören, die Stimme eines Westlers, die Stimme eines Muttersprachlers. So von aller Welt verlassen fühlte er sich.
»Jjjjjjo?«
Tyrone hörte sich ziemlich angeschlagen an. Wahrscheinlich hatte er ihn aus dem Tiefschlaf gerissen, und nun war er gerade dabei, sich ein erstes Bild vom Ausmaß seines Katers zu machen.
»Ty. Ich bin’s, Jake.«
Sein Freund war schlagartig hellwach. »Jake, Scheiße noch mal, Mann, wo steckst du? Halb Phnom Penh sucht nach dir – und Chemda.«
Jake schilderte Ty die Situation so bündig wie möglich – der Großvater, die Brandbomben, der stumme Hausmeister, die Flucht nach Siem Reap. Tyrone ließ mehrere Male ein paar krasse Flüche ab. Dann erzählte ihm Jake von Chemdas Vater: dass er ebenfalls einer Lobotomie unterzogen worden war.
»Ach du Scheiße«, brummte Tyrone. »Und wie hat sie das aufgenommen?«
Jake sagte zunächst nichts.
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