Bibel der Toten
Er ging zum Fenster und schaute auf die nicht sehr belebte Straße hinab. Ein Straßenkehrer mit einem Strohhut und einem Uniformkittel fegte lustlos den Gehsteig – vor dem Eingang wartete ein Tuk-Tuk. »Wie es scheint, ist es passiert, bevor ihre Familie nach Kalifornien geflohen ist. Sie war damals noch ziemlich klein, sechs oder sieben. Das Einzige, woran sie sich erinnern kann, ist, dass ihr Vater die meiste Zeit schwere Depressionen hatte und zu viel trank. Und sehr schweigsam und in sich gekehrt war.«
»Na ja, eine Menge Khmer waren von den Gräueln des Terrorregimes massiv traumatisiert …«
»Genau so hat sie sich das Ganze auch erklärt. Aber gestern Nacht hat sie mir erzählt, dass sie sich noch ganz schwach an eine Narbe an seinem Kopf erinnern kann, unter den Haaren. Und er litt an extrem schweren – abgrundtiefen – Depressionen.«
»Und deshalb hat er schließlich Selbstmord begangen?«
»Nein. Er wurde im Vollsuff von einem Bus überfahren, sagt Chemda. Ein Unfall. Das haben sie ihr jedenfalls damals gesagt, ihre Mutter. Madame Tek. Jetzt beginnt sie sich natürlich zu fragen, ob es vielleicht doch kein Unfall war. Es war vermutlich auch etwas eigener Antrieb dabei, ein starker selbstzerstörerischer Impuls.«
»O Mann«, sagte Tyrone. »Kein Wunder, dass Großvater Sen nicht gut auf die Roten Khmer zu sprechen ist. Sie haben die Hälfte seiner Familie einer Lobotomie unterzogen. Scheiße. Scheiße. Scheiße. Und jetzt fährst du wegen irgend so einem Indiana-Jones-Quatsch nach Angkor. Klasse Timing …«
»Sonisoy behauptet steif und fest, er hätte wichtige Beweise. Er will sie uns zeigen.«
»Und dann?«
»Versuchen wir nach Thailand zu kommen.«
Tyrone sog hörbar den Atem ein. »Das dürfte nicht ganz einfach werden …«
»Ich weiß. Hast du irgendeine Idee, wie wir es am besten anstellen?«
Eine Pause. Dann eine Antwort.
»Wenn ihr in Angkor Wat fertig seid, fahrt ihr nach Anlong Veng. Zum abgelegensten Grenzübergang. Nach Chong Sa. Dort habe ich aus der Zeit, als ich diese Ta-Mok-Story gemacht habe, ein paar Freunde. Vielleicht helfen sie euch. Sieh also zu, dass du so unauffällig und so schnell wie möglich dorthin kommst! Jeder – ich wiederhole: jeder – könnte zur Gefahr für euch werden. Egal wer.«
»Jeder? Aber hier, fernab von Phnom Penh, sind wir doch bestimmt etwas sicherer …«
Tyrone stieß einen ungeduldigen Pfiff aus. »Hörst du mir eigentlich zu, Thurby? Du hast keine Ahnung, was hier in PP gerade los ist, verdammte Scheiße noch mal. Das reinste Chaos, Mann. Die Polizei ist auf der Jagd nach dir, es kommt ständig im FCC, überall. Großvater Sen hat heute Morgen eine Riesenanzeige in die Post gesetzt, in der er um Unterstützung bei der Suche nach seiner Enkelin bittet. Und die Zeitungsmeldung ist noch schlimmer. Dort steht, du hättest Chemda Tek laut Aussagen der Polizei aus Phnom Penh entführt. Sogar eine Belohnung haben sie auf dich ausgesetzt. Du wirst ohne Scheiß steckbrieflich gesucht, wie in einem Western.«
»Das kann ja wohl nur ein Witz sein.«
»Tut mir leid, Jake. Es ist die Wahrheit. Sieh also lieber zu, dass du so schnell wie möglich nach Thailand kommst. Scheiß auf diese Beweise. Hau einfach nur ab, Mann.«
»Aber Chemda möchte sie unbedingt …«
»Dann trenn dich von Chemda, Jake. Du tauchst auf der Stelle unter. Ohne sie bist du im Moment sowieso besser dran. Und vor allem sicherer.«
Dieser Gedanke leuchtete ihm ein; dieser Gedanke war grotesk.
»Ich kann sie jetzt unmöglich im Stich lassen, Ty. Du weißt ganz genau, dass …«
Tyrone stöhnte. »Aber sie haben es auf dich abgesehen! Sie sind mit Knarren hinter dir her, Mann. Das ist nicht irgendeine bescheuerte Übung. Der Polizeichef hat wortwörtlich gesagt: Es werden alle nötigen Maßnahmen ergriffen, um Chemda Tek schnellstmöglich aus den Händen des Entführers zu befreien ; sprich, die Polizei wird dich mit allen Mitteln zu fassen versuchen, und zwar vollkommen egal, ob tot oder lebendig.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Und nachdem wir hier in Kambodscha sind, heißt das nichts anderes, als …«
»Ich kann sie in dieser Situation nicht alleinlassen.«
Tyrone seufzte. »Ich weiß, dass du das nicht kannst. Ich weiß.«
23
J ulia drückte sich in eine dunkle Ecke, eine Art Vestibül zwischen der Pförtnerloge und dem Eingang des Archivs. Vielleicht ging die Mörderin einfach an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken.
Dann könnte sie fliehen. Wenn die
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