Bibel der Toten
Frau direkt in den Lesesaal oder ins Hauptarchiv ging, hätte sie ein paar Sekunden Zeit, um das Gebäude unbemerkt zu verlassen.
Die Tür ging auf.
Die Asiatin blieb stehen und blickte sich kurz um. Julia drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie konnte ihr Herz bis in Lunge und Wirbelsäule schlagen spüren, so fest hatte sie sich gegen das raue Mauerwerk gepresst.
Die Asiatin stand immer noch da und blickte sich um. Ihr Gesicht war von einer so intensiven Blässe, als wäre sie schon nicht mehr von dieser Welt. Irgendetwas an ihr war eigenartig.
Jetzt spähte sie mit zusammengekniffenen Augen in das Dunkel des Vestibüls. Sicher hatte sie Julia bereits entdeckt. Etwas anderes war gar nicht denkbar. Doch dann ging die Asiatin auf die Pförtnerloge zu und tippte gegen die Glasscheibe. Sie wollte mit dem Pförtner sprechen, dem mürrischen alten Franzosen.
Julia bekam die nächste Panikattacke. Bestimmt würde der alte Franzose der Asiatin sagen: »Ach, gerade hat sich eine junge Frau nach Ihnen erkundigt; sie müsste noch hier sein; es ist keine Minute her, dass ich mit ihr gesprochen habe.« Und dann – dann würde sich die Mörderin umdrehen und ihre dunklen Augen noch fester zusammenkneifen, und sie würde Julia entdecken und ihr Messer ziehen oder Schlimmeres.
Der Pförtner schien eingeschlafen – oder auf die Toilette gegangen zu sein. Das beharrliche Klopfen der Frau blieb unerwidert.
Tipp, tock, tipp.
» Bonjour? Hallo? Ist da jemand?«
Keine Antwort. Die kleine, geschmeidige Frau hatte eine tiefe melodische Stimme. Möglicherweise einen amerikanischen oder kanadischen Akzent. Aber das Gesicht war eindeutig asiatisch und extrem blass.
Sie beugte sich zu der Glasscheibe vor und beschirmte mit einer Hand ihre Augen, um besser nach drinnen sehen zu können. Wo war der Pförtner?
Tipp, tock, tipp.
»Bonjour?«
Julia wog ihre Möglichkeiten ab. Sie konnte jetzt einfach loslaufen, an der Frau vorbei und zur Eingangstür hinaus; vermutlich brauchte die Frau einige Sekunden, um die Situation zu überblicken. Und wenn sie schließlich schaltete, würde sie Julia überhaupt nachlaufen? Würde sie das Risiko eingehen, Julia am helllichten Tag anzugreifen?
Eine bessere Chance bekäme Julia nicht mehr. Tu es jetzt. Bevor der Pförtner zurückkam und auf sie zeigte und die Frau sich zu ihr umdrehte.
Ihr war plötzlich sehr heiß; schweißüberströmt stand sie wie gelähmt vor Angst da. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie wollte gerade losrennen, als sie eine Stimme hörte. Der Pförtner. Die gläserne Trennscheibe wurde aufgeschoben.
»Ah, Mademoiselle, pardon, bonjour.«
»Sind Sie beschäftigt?«
» Non, ich hatte nur gerade etwas Dringendes zu erledigen.«
Die Asiatin nickte, ohne zu lächeln.
»Gut, dann würde ich gern mit meinen Recherchen weitermachen. Verstehen Sie?«
»Oui, oui!« Der Pförtner grinste devot, unterwürfig, servil; schaudernd wurde Julia bewusst, dass selbst dieser mürrische große Mann Angst hatte vor der kleinen, furchteinflößenden Frau, dieser Killerin, deren Ausstrahlung ebenso schwer greifbar wie beängstigend war.
Die bleiche Asiatin wandte sich zum Gehen. Julia atmete erleichtert auf. Die Gefahr war gebannt. Der Pförtner hatte sie nicht verraten. Die Frau war sich nicht bewusst, dass Julia nur fünf Meter von ihr entfernt stand …
»Un moment.« Der Pförtner beugte sich durch das offene Fenster. »Da waren zwei Leute, die nach Ihnen gesucht haben.«
Prompt wirbelte die Frau zu ihm herum, geschmeidig wie eine Katze, in Turnschuhen, Jeans und einem dunklen T-Shirt unter der modischen Lederjacke.
»Wann?«
Der Pförtner murmelte: »Ce matin …?«
Die Reaktion erfolgte blitzschnell. Der Rest der Antwort ging im lauten Klirren von zerbrechendem Glas unter. Gefolgt von einem gequälten Ächzen und einem angsterfüllten Stöhnen. Was genau in der Pförtnerloge passierte, konnte Julia nicht sehen. Die Killerin verdeckte ihr die Sicht. Das Röcheln war grauenhaft und ging bald in pfeifendes Zischen und tiefes Stöhnen über. Dann trat Stille ein.
Die zierliche Frau drehte sich um. Und rannte weg. Julia konnte rasche Schritte hören. Eine Tür flog auf, und von draußen, vom Parkplatz und dem Nieselregen und den algerischen Betonslums wehte ein Schwall kalter Luft herein.
Fünf Minuten lang kauerte Julia einfach nur da, halb schluchzend, halb keuchend, erleichtert und immer noch zitternd vor Angst. Sie simste Alex. Fahr nach Hause. Sofort. Bitte vertrau
Weitere Kostenlose Bücher