Biest: Thriller (German Edition)
aber so ist es nun einmal. Wir müssen versuchen, ihren Auftraggeber zu identifizieren.«
»Okay. Ich versuch’s«, versprach Marcel und legte auf. Die Tür zu Doreen Kaisers Wohnung stand offen, das Schloss war brutal aufgebohrt worden. Im Flur war es kalt, und es wirkte, als hätte sie vor ihrem Auftrag noch einmal durchgeputzt. Das Linoleum roch nach künstlicher Bergwiese, die Kleiderhaken waren leer. Vielleicht die Kommode darunter? Marcel zog eine Schublade auf und begann, den Inhalt nach etwas Interessantem zu durchwühlen, als ihn plötzlich jemand ansprach.
»Und wer bitte schön sind jetzt Sie?«, fragte ein Mann in grüner Polizeiuniform. Er trug einen Indianderring am Finger und war schätzungsweise Mitte fünfzig. Graue, ein wenig zu lange Haare. Er sah mehr wie ein Streetworker als wie ein Polizist aus.
»Marcel Lesoille von der ECSB«, log er. »Ein Kollege von Solveigh.«
»Ah, Frau Lang«, sagte der Beamte, als wären sie gute Bekannte. »Na, dann will ich Ihnen mal zeigen, was der Tauscheck gefunden hat. Kommen Sie mal mit!«
Seltsame Ausdrucksweise, notierte Marcel. Im Grunde ein gutes Motiv, der Indianer in Uniform. Er dachte nur kurz daran, die Leica aus der Tasche zu holen, bevor er sich erinnerte, was er Solveigh versprochen hatte. Trotzdem lief er dem Mann hinterher ins Schlafzimmer, wo er offenbar bereits den Inhalt sämtlicher Schränke und Schubladen ordentlich sortiert auf dem Bett ausgebreitet hatte.
»Meine Einschätzung hat sich nicht geändert bezüglich der Kaiser-Doreen. Eine äußerst geheimnisvolle Frau.«
»Und eine überaus attraktive dazu«, vermerkte Marcel, als er einige der Fotos betrachtete, die in der Mitte des Bettes la-gen.
»Ja, schon«, stimmte Tauscheck zu. »Aber vor allem geheimnisvoll. Es gibt keine Jugendfotos, keine Zeugnisse, keine Dokumente von vor 1991. Nichts. Es ist, als habe ihr Leben erst in diesem Jahr begonnen. Genauer gesagt: am 18.9.1991 mit einer Arbeitslosenmeldung.«
Das war tatsächlich eigentümlich. Normalerweise bewahrt doch jeder irgendetwas aus seiner Vergangenheit auf, und sei es ein Impfpass. »Und Sie haben wirklich alles gründlich durchsucht?« Der Indianer warf ihm einen tadelnden Blick zu.
»Okay, okay«, wehrte Marcel ab. »Und in der näheren Vergangenheit?«
»Wollen wir doch mal sehen.« Er begann, einen Stapel DIN-A4-Papier durchzublättern. »Fast durchgängig Monatskarten für den BVG in den letzten zwei Jahren, Tarifbereich AB bis zum September, unterbrochen im Juni 2012 und im August 2011.«
»Urlaub«, schätzte Marcel. Der Beamte nickte. »Hilft uns der Tarifbereich weiter?« Kopfschütteln. »Nein, das ist ein riesiges Gebiet.«
»Sonst irgendetwas?«, fragte Marcel.
»Nicht so schnell, junger Mann. Ich habe ja nicht gesagt, dass der Tauscheck nicht noch ein Ass im Ärmel hat. Für besagten Juni und August fand ich einige Einzelfahrscheine, Hin- und Rückfahrt säuberlich abgeheftet neben den Monatskarten. Und was sagt uns das?«
Marcel hatte keine Ahnung, aber er musste Tauscheck auch nicht extra auffordern, seine Erkenntnisse loszuwerden.
»Die Steuererklärung. Sie hat sie aufgehoben wegen der ständigen Änderungen für die Fahrtkostenpauschale. Und damit haben wir einen Hinweis auf ihren Arbeitsplatz.«
»Und wohin ist sie gefahren?«
»Mehringdamm. U-Bahnhof.«
»Und was jetzt?«, fragte Marcel.
»Na, hier fertig machen, obwohl ich nicht glaube, dass wir noch irgendwas finden werden, und ab morgen früh Klinkenputzen am Mehringdamm.«
»Ich habe morgen früh schon einen Termin. Schaffen Sie das alleine?«
Erneut erntete Marcel einen tadelnden Blick von Tauscheck, der ihm sagen sollte, dass er es natürlich alleine schaffte. Und zur Not konnte er ja noch die beiden Beamten vor der Wohnung verpflichten. Denn eines hatte Marcel ganz sicher nicht vor: Solveigh alleine zu lassen, wenn sie aus der Narkose aufwachte. Er musste in die Charité, so schnell wie möglich.
Als Solveigh mitten in der Nacht aufwachte, sehr langsam, aus einem tiefen, traumlosen Schlaf, sah sie Marcel noch in seiner Jacke auf dem Besucherstuhl sitzen. Er hatte ihn ganz nah neben ihr Bett geschoben, sein Kopf lag auf seiner Schulter, seine Fingerspitzen berührten den Katheter auf ihrem Handrücken. Sie lächelte. Als sich langsam der Nebel in ihrem Kopf verzog, stellte sie fest, dass es ihr erstaunlich gut ging. Körperlich war sie natürlich geschwächt, und ab und zu überfiel sie eine tiefe Traurigkeit, aber innerlich
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