Biest: Thriller (German Edition)
wirklich los war. Selbstmörder wurden zu Signalstörungen, Baustellen zu Oberleitungsschäden, Verspätungen wurden stets nur häppchenweise zugegeben.
»Regionalexpress 4809 nach Heilbronn über Heidelberg, Eberbach und Neckarsulm, planmäßige Abfahrt um 15.36, wird heute voraussichtlich zehn Minuten später eintreffen.«
Oder sie gaben gleich gar keinen Grund an. Doreen warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, die ebenso neu war, wie der Rest ihrer Kleidung und der Wohnungseinrichtung, die in diesem Moment mit einem Lastwagen von zwei polnischen Arbeitern nach Heilbronn gefahren wurde. Zu ihrer neuen Wohnung. Zu ihrem Auftrag. Doreen war es gleichgültig, ob der Zug zehn oder zwanzig Minuten Verspätung hatte, es kam nicht darauf an. Wichtig war nur, dass sie Anfang nächsten Jahres den Kontakt hergestellt hatte. Und sie hatte noch über einen Monat Zeit bis zum Stichtag. Sie würde ihn nicht verpassen, nicht wegen der halbstündigen Verspätung einer Regionalbahn. Glücklicherweise stand der Zug schon abfahrbereit auf dem Gleis, sodass sie nicht einmal in der Kälte warten musste. Sie suchte sich eine Fensterreihe, hinter der möglichst wenige Fahrgäste saßen, und drückte den Türöffner. Keine zwei Minuten später saß sie auf einem unbequemen, harten Sitz mit blauer Polsterung, die diesen Namen nicht verdiente, und starrte aus dem Fenster. Wie er wohl sein würde? Noch einmal kramte sie den braunen Umschlag aus ihrer Handtasche, den sie eigentlich in Berlin hätte lassen sollen, und betrachtete die Fotos der vier Männer, von denen sie einen verführen sollte. Nicht nur einfach verführen natürlich, eine richtige Beziehung sollte sie mit ihnen eingehen – inklusive gemeinsamer Zukunft und so weiter, Kinderplanung möglicherweise, wenn es klappen würde, mit Anfang vierzig. Wenn er wollte, sie hätte sich immer Kinder gewünscht, würde sie sagen. Es würde nicht klappen. Oder doch lieber zweisam durchs Leben? Kein Problem, würde sie sagen, man durfte doch auch nicht die gemeinsame Zeit wegschenken, auf die sie sich so freute. Sie würde sein, was sie sein sollte. Seine Traumfrau. Gedankenverloren betrachtete sie Peters hohe Stirn, seine Lachfalten, das leicht ergraute schüttere Haar. Oder Martin, der Jüngste, ein attraktiver Mann mit dichtem schwarzem Haar und einem Schnauzbart, der Softwarespezialist, danach Hans, der in der Verwaltung arbeitete und die Dienstpläne erstellte, obwohl der laut Thomas nur zweite Wahl war wegen seines Jobs. Peter war ihr ohnehin am sympathischsten, aber darauf kam es nicht an. Obwohl es vieles leichter machen würde. Doreen stellte sich Peter vor, wie er von der Arbeit käme, er arbeitete als technischer Angestellter in der Beschaffung, und sie hätte einen Kuchen gebacken, Butterkuchen, wie ihre Oma. Mit einer Kerze drauf. »Aber ich habe doch gar nicht Geburtstag«, würde er sagen. »Aber wir schon, Schatz. Vor einem Monat haben wir uns kennengelernt, und ich wollte einfach sagen, wie toll ich das finde.« Doreen schauderte bei dem Gedanken und zog ihren Lippenstift nach mit einem kleinen Taschenspiegel. Als sie sich darin betrachtete, sah sie eine schöne Frau, eine einsame Frau, die nach Heilbronn zog und niemanden kannte. Sie klappte den Spiegel zu und stopfte ihn zusammen mit dem Umschlag zurück in ihre Handtasche.
KAPITEL 21
Szczurowa, Polen
14. Oktober 2012, 06.31 Uhr (vier Tage später)
Thomas Eisler beobachtete den Fortschritt vom Team Schweden. Sechs Männer mit kantigen Gesichtern und kurzen Haarschnitten. Ihre identische schwarze Kleidung ließ sie noch etwas gleicher aussehen. Der Trupp lief auf einen über drei Meter hohen Zaun zu, nach außen gewandter Stacheldraht auf der Krone ließ ihn unüberwindlich aussehen. Die Höhe und der Winkel des Wehrs entsprachen exakt den Gegebenheiten in Forsberg. Der Mann, der für die Leiter zuständig war, lief vorneweg, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Geschwindigkeit und Kräfte sparen zugleich. Im Lauf ließ er das erste Segment seiner speziell angefertigten Leiter einrasten. Dann das zweite und dritte. Das leichte und trotzdem hochfeste Karbon machte es möglich, dass er sie tragen konnte, obwohl sie bereits fast zwei Meter hoch war. Es handelte sich genau genommen nicht einmal um eine Leiter, sondern vielmehr um eine Brücke mit Stufen. Das fertige Konstrukt würde jede Mauer und jeden Zaun in der geforderten Höhe überwinden. Es war der einzige Job des groß gewachsenen Mannes im Team Schweden: zu
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