Big Bad City
Toilettenschüssel glänzten geradezu. Über dem Waschbecken hing ein Spiegelschrank, der mehrere verschreibungspflichtige Medikamente enthielt, bei denen es sich um Antibiotika zu handeln schien, sowie die übliche Sammlung der rezeptfreien Schmerz- und Hustenmittel, die man in jedem Arzneischrank in dieser Stadt finden konnte. Das war es. Nirgendwo ein Gemälde oder Foto. Die Wohnung war merkmallos, farblos, langweilig und deprimierend.
Brown öffnete die Tür zu dem einzigen Schrank des Raums. Darin befanden sich drei Röcke, vier Hosen, zwei Kleider, ein Wintermantel aus Wolle, ein Regenmantel und mehrere Paar feste Schuhe. Carella öffnete die oberste Kommodenschublade. Baumwollhöschen und BHs. Eine weiße Strumpfhose. Socken. Eine dunklere Strumpfhose. In der mittleren Schublade Blusen. Schals. In der unteren Pullover. Kein einziges Schmuckstück. Keine Spur von einem wirklich persönlichen Gegenstand.
In der Schublade des Nachttischs fanden sie ein Adreßbuch, einen Terminkalender und ein Notizbuch mit Spiralbindung.
»Die würden wir gern mitnehmen«, sagte Carella und blätterte den Terminkalender durch. »Nee«, sagte Harding. Beide Detectives sahen ihn an.
»Wir stellen Ihnen eine Empfangsbestätigung aus«, sagte Brown.
»Nee«, sagte Harding.
Die Detectives sahen sich an.
»Die Sachen gehören mir nicht«, sagte Harding. »Ich bin nicht befugt, sie Ihnen zu geben.«
Carella bedachte den Mann mit einem Blick, der Grönland hätte schmelzen können. Er setzte sich in den Sessel, holte sein Notizbuch hervor und schrieb Mary Vincents Verabredungen und Termine in den letzten beiden Wochen vor ihrem Tod ab. Dann ging er zum Nachttisch zurück, legte alle drei Bücher wieder in die Schublade und warf Harding noch einen Blick zu. »Wir kommen wieder«, sagte er.
»Dieses Arschloch zwingt uns, einen Durchsuchungsbefehl zu besorgen«, sagte Brown, als sie wieder im Wagen saßen.
»Tja, er ist im Recht«, sagte Carella.
»Die meisten Leute hätten sich mit einer Empfangsbestätigung zufriedengegeben.«
»Die Leute mögen Cops nicht, daran liegt es. Wir erinnern sie an SA-Männer.«
»Du und ich?«
»Wir alle.«
»Wahrscheinlich kommt er mit Sheriffs besser klar«, sagte Brown.
»Wahrscheinlich.«
»Wollen wir gleich in die Stadt fahren und ihn besorgen?«
»Der Doktor hat gesagt, er macht um vier Feierabend.«
»Wenn wir uns nicht beeilen, kriegen wir vielleicht keinen Richter mehr«, sagte Brown.
»Nehmen wir uns zuerst den Doktor und den Priester vor und sparen uns den Cowboy bis zum Schluß auf. Was hältst du davon?«
»Klar. So oder so, wir müssen in die Stadt fahren, und das dauert mindestens ‘ne halbe Stunde. Dieses Arschloch.«
Keiner der beiden bemerkte den kleinen grünen Honda, der ihnen in einem Abstand von etwa sechs Wagenlängen folgte.
Der Chefarzt der Intensivpflegeabteilung des St. Margaret’s Hospital, wie sie euphemistisch genannt wurde, hieß Winston Hall. Das hätte auch der Name eines Studentenwohnheims sein können. Die Detectives schätzten ihn auf Mitte Vierzig, ein großer, sonnengebräunter, kantiger Mann mit einem ansteckenden Lächeln und angenehmen, leisen Umgangsformen. Er trug ein zerknittertes Leinensakko über sandfarbenen Hosen, ein hellblaues Hemd und eine dezente, blau und gelb gestreifte Krawatte. Wie er um Viertel nach drei an diesem Nachmittag im zweiten Stock hinter seinem Schreibtisch saß, schien er eher für eine Bootsfahrt als für einen Arbeitstag gekleidet zu sein.
Er erklärte ihnen, seine Station verfüge über vierzig Betten, von denen die meisten von Patienten belegt waren, die Langzeitpflege benötigten und von denen viele eigentlich eher in ein Pflegeheim als in ein Krankenhaus gehörten.
»Sobald es ein ernsthaftes Problem gibt, schicken die Heime sie uns mit dem Krankenwagen, in der Hoffnung, wir würden sie auf Dauer hierbehalten. Manchmal tun wir das auch, aber bei vielen unserer Patienten ist »auf Dauer< eher eine kurzfristige Angelegenheit.«
»Was für Patienten hat Mary gepflegt?«
»Wir haben alle möglichen auf dieser Station«, sagte Hall. »CLO, Krebs im Endstadium, Alzheimer…«
»Was ist CLO?«
»Chronische Lungen-Obstruktion. Asthma, Emphyseme, chronische Bronchitis. Die meisten bekommen Sauerstoff. Wir haben auch eine Patientin mit der Whipple-Krankheit. Sie liegt seit drei Jahren im Sterben, läßt aber einfach nicht los. Wir haben ihr einen PEG-Schlauch in den Bauch genäht und ernähren sie damit und
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