Big Bad City
oder auf der Bühne suchten. Es gab nicht viele Hausmeister aus Montana, die ihr Pferd auf den hiesigen Straßen ritten. Wenn man es genau nahm, hatte Carella in seinem gesamten Leben nicht einen Menschen aus Montana kennengelernt.
Brown auch nicht. Carella war sich nicht mal sicher, daß er wußte, wo Montana überhaupt lag. Brown auch nicht.
Nathan Harding war Anfang Sechzig, schätzten sie zumindest, stämmig und mit beginnender Glatze, und schwitzte gewaltig in einem gestreiften T-Shirt und Jeans. Obwohl das Haus nur über vierundzwanzig Apartments verfügte, konnte er sich nicht genau daran erinnern, welcher seiner Mieter Mary Vincent war. Als sie ihm erklärten, sie sei die Nonne, die im St. Margaret’s Hospital arbeite, erwiderte er, er kenne das Krankenhaus nicht, was nicht gerade eine Antwort auf die Frage war. Mary Vincent sei siebenundzwanzig Jahre alt, fuhren sie fort, und Nonne im Orden der Sisters of Christ’s Mercy. Er sagte, drei oder vier Mädchen in diesem Alter wohnten hier bei ihm im Haus, wüßte aber nicht, daß eines davon eine Nonne sei. Carella und Brown machte die verdammte Hitze auch zu schaffen, und der Hausmeister ging ihnen allmählich schwer auf die Nerven.
»Haben Sie nicht irgendwo eine Liste der Mieter?« fragte Brown.
»Worum geht’s überhaupt?« fragte Harding.
»Es geht um Mord«, sagte Carella.
Harding sah ihn an.
»Können wir diese Mieterliste sehen?« fragte Brown.
»Klar«, sagte Harding und führte sie in seine Wohnung im Erdgeschoß. Das Gebäude verfügte weder über einen Portier noch über einen Fahrstuhl; man konnte also das Treppenhaus hinaufgehen, ohne daß jemand etwas davon mitbekam. Hardings Apartment sah aus, als hätte die kambodschanische Armee dort vor kurzem ihr Lager aufgeschlagen. Er stöberte in einem kleinen Schreibtisch in einem kleinen, vollgestopften Büro neben der Küche herum und fand eine maschinengeschriebene Liste, der man entnehmen konnte, daß eine Mary Vincent in Apartment 6-C wohnte.
»Schließen Sie uns die Wohnung auf?« sagte Brown. »Eine Nonne hat jemanden umgebracht?« sagte Harding.
»Genau anders herum«, sagte Carella und beobachtete Hardings Gesicht. Nichts zeigte sich darauf. Der Mann nickte lediglich.
»Dann geht das ja wohl in Ordnung«, sagte er.
Beide Detectives waren außer Atem, als sie den Treppenabsatz des sechsten Stocks erreichten. Harding stammte aus Montana, er nahm die Stufen im Laufschritt. Es gab drei weitere Wohnungen auf dieser Etage, aber es war halb drei am Nachmittag, und im Haus war es praktisch still, fast alle Mieter waren auf der Arbeit.
»Seit wann wohnte sie hier?« fragte Carella.
»Wenn sie die ist, die ich meine«, sagte Harding, »ist sie vor ungefähr einem halben Jahr eingezogen.« Er suchte an seinem Schlüsselring nach dem für 6-C.
»Hat sie allein hier gewohnt?«
»Kann ich nicht sagen.«
Die Detectives wechselten einen Blick. Hier in dem Gebäude war es heißer als draußen im Freien. Die gesamte Hitze des gestrigen Tages war hier in dem schmalen Korridor im sechsten Stock, direkt unter dem Dach, steckengeblieben.
Sie warteten geduldig. Brown wollte ihm gerade den verdammten Ring aus der Hand reißen, als Harding den Schlüssel endlich fand. Er fummelte am Schloß herum, und der Schlüssel glitt problemlos hinein. Er drehte ihn, schloß die Tür auf und stieß sie weit auf. Eine Woge noch heißerer Luft wälzte sich schwer in den Korridor. Carella ging als erster hinein.
Das war zwar kein Tatort, aber er zog trotzdem Baumwollhandschuhe an, bevor er ein Fenster öffnete. Nur minimal kühlere Luft sickerte von draußen herein. Das Jaulen einer Krankenwagensirene durchdrang die relative Nachmittagsstille.
»Ein Studio?« fragte er.
Harding nickte.
Es war ein besonders kleines Studio-Apartment. Ein Einzelbett an einer Wand, das Telefon auf dem Nachttisch daneben. Auf der anderen Seite des Zimmers standen ein Bücherregal, ein Sessel, eine Stehlampe und eine nicht lackierte Kommode. Ein abschließbares Fenster hinter der Kommode öffnete sich zu der Feuerleiter hinter dem Haus. Die Küche hatte die Größe eines begehbaren Wandschranks. Ein Kühlschrank, darin zwei Orangen, eine Tüte entrahmte Milch, ein Laib Vollkornbrot, eine Packung Grüngemüse aus ökologischem Anbau und ein Becher Margarine. Im Tiefkühlfach lagen sechs gefrorene Yoghurtriegel und eine Flasche Wodka. Das Badezimmer war klein und makellos sauber. Die weiße Wanne, das Waschbecken und die
Weitere Kostenlose Bücher