Bilder von A.
dem er immer behauptete, er sei schwedisch, hat A. während der ganzen Woche keiner der »Renegaten« gefragt, das fand ich sehr rücksichtsvoll. So wie ich es aus Rücksicht auf seinen in Rußland verschollenen Vater auch nicht gewagt hatte, A. auf der Fahrt vom Moskauer Flughafen Scheretmetjewo in die Stadt auf das Denkmal mit der meterhohen Panzersperre aufmerksam zu machen, das den Punkt markiert, an dem die deutschen Truppen zum Stehen gebracht wurden. Ich glaube, wir haben beide weggesehen.
Jeden Abend gingen wir ins Taganka-Theater, von dem man damals nie wußte, ob es nicht schon am nächsten Tag von den Behörden geschlossen werden könnte. Aber schließlich ist es nie geschlossen worden, wahrscheinlich wegen seiner Beliebtheit und aus Furcht vor einem Aufstand im Zentrum Moskaus, den ein Verbot hätte nach sich ziehen können und der der Welt nicht so verborgen geblieben wäre wie ein paar zusammengeschossene Streikende in Sibirien oder die aufständische Minderheit einer fernen Republik.
Im Zuschauerraum entdeckten wir Marina Vlady, die berühmte französische Schauspielerin, die mit Wladimir Wyssotzky verheiratet war. Später hörten wir sie russisch parlieren, sie war ja russischer Herkunft, das wußten wir natürlich nicht und staunten.
Wyssotzky war für sein Publikum geradezu ein Gott, und ansonsten war er ein großer Schauspieler und dazu ein Sänger, der sich das Herz aus dem Leib sang und das Maul aufmachte, ohne Rücksicht auf irgend jemand. Ein russischer Bob Dylan, aber er riskierte mehr, sein Leben eingeschlossen, schließlich waren wir in Rußland, schlimmer noch, in der Sowjetunion. Er sang zornig, trauernd um das verlorene Leben, das verhaßte Regime anklagend. Unnötig zu sagen, daß alle seine Lieder verboten waren, Platten oder sonstige Veröffentlichungen gab es nicht, Mitschnitte seiner Lieder aber wurden millionenfach in Kopien weitergereicht, das ganze Land kannte und sang seine Lieder auswendig. Als er wenige Jahre später im Alter von 42 Jahren starb, gab es keine offizielle Bekanntmachung, weil zu dieser Zeit gerade die Olympischen Spiele in Moskau stattfanden, deren Inszenierung nicht gestört werden durfte, und trotzdem, noch heute weiß niemand, wie es geschah, trafen sich unverabredet Hunderttausende auf den Straßen, die zu dem Friedhof führen, auf dem Wyssotzky begraben wurde. Es war die größte Demonstration, die Moskau je gesehen hatte.
Wyssotzky rauchte wie ein Schlot und trank wie ein Loch, er verausgabte sich wie ein Berserker, das wird zu seinem frühen Tod beigetragen haben, das machte aberauch den Charme seines heiseren Gesangs aus. Seine Gitarre verbrannte er nicht wie Jimmy Hendrix, dazu war er ein zu professioneller und disziplinierter Schauspieler und hatte zu viel Witz und Charme, das sah man an Marina Vlady.
Vor allem wollte ich A. die Inszenierung des Hamlet zeigen, der auf Russisch Gamlet heißt, Wyssotzky spielte ihn. Diesen Gamlet mußte er sehen. Jeder mußte ihn sehen. Er war unvergeßlich! Wer damals wissen wollte, was eine Gegenkultur ist, der mußte nach Moskau fahren, um zu erleben, was das wirklich hieß. Nicht einfach Konventionen brechen, die schon lange niemand mehr binden. Damals in Moskau konnte man etwas viel Selteneres, Ungeheures erleben: Wie in einer explosiven Stimmung, trotz Einschüchterung, Unterdrückung und Verhaftungen, Funken der Freiheit sprühten und Bühne und Zuschauerraum zu einem Ort der Komplizenschaft und Brüderlichkeit wurden, wovor die Machthaber so große Angst hatten. Denn die Freiheit der Kunst ist die einzig erkennbare Form der Freiheit auf dieser Erde ,war ein Lieblingssatz von A. Hier fand er ihn bewiesen.
Das Theater hat seinen Namen vom nahe gelegenen Taganskaja Platz zwischen den Metrostationen Marxistkaja und Proletarskaja, die wie alle Moskauer Metrostationen pharaonenhafte Ausmaße haben, mit marmornen Statuen und Fresken von heldenhaften Arbeitern, Bauern und Akademikern, die, mit ihren Arbeitsgeräten winkend, in eine herrliche Zukunft blicken und sich in nichts von anderer faschistischer Kunst unterscheiden.In der Nähe stand ein Kloster, das nicht etwa abgerissen, sondern in eine Fabrik verwandelt worden war, in der die Produktion auf Hochtouren zu laufen schien, denn, zuerst glaubte man seinen Augen nicht, dann sah man ganz deutlich, daß das ganze Gebäude einschließlich der goldenen Kuppeln wankte, wackelte und zitterte, und wenn man sich näherte, hörte man schließlich auch den Lärm der
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