Bilderbuch Aus Meiner Knabenzeit
abends um 6 Uhr, erhalte und um 7 Uhr beantworte, zu glauben scheinst. Ja mein Bester, man muß in meiner Lage sein, um die Verschiedenheit meiner beiden Briefe einzusehen. Stelle Dir alle die schmerzhaften Gefühle vor, die die Begebenheiten des Augusts und Septembers in mir erzeugten; stelle Dir eine gewisse Art der Verzweiflung vor, die all' diese Szenen in mir hervorriefen, und Du wirst nicht zweifeln, wie unendlich begierig ich war, an dem ersten glücklich scheinenden Umstande mich festzuhalten, der sich mir darbot, und dieser Umstand, ich gestehe es, war der glückliche Fortgang der französischen Waffen und der so günstige Einfluß, den derselbe, wie ich hoffte, auf die innere Lage Frankreichs und auf die Lage Deutschlands haben sollte.
Ich vergaß auf einen Augenblick den fressenden Krebs, der den französischen Staatskörper zugrunde richtet, ich vergaß auf einen Augenblick tausend Dinge, die ich nicht hätte vergessen sollen. Auf einige Augenblicke sage ich! – denn das Tagebuch des National-Konvents, die Namen der gemordeten Bürger, die grenzenlosen Betrügereien, die überall verübt wurden, die schrecklichen Verirrungen des Freiheits-Fanatismus, die überhandnehmenden Bedürfnisse des Staats und der geringe Eifer, ihm auf eine reelle Art zu Hülfe zu kommen, die überall sich äußernden Symptome der Verdorbenheit oder der Unwissenheit, jene Schwäche verratende Prahlerei und jener allzu sichtbare Mangel an Tugend, rief mich frühe genug aus meinen Träumen zurück. Ich fand, daß die Tugend der französischen Miliz so gering, die schändlichen Handlungen, die einzelne Teile derselben ausübten, so groß waren, daß die Anarchie, an der sie krank lag, so beträchtlich war, daß die Beispiele, die sie gab, die Nationen eher von Verbindungen abschreckten, als sie dazu einluden.
In Deutschland, hoffte ich, sollte die Freiheit einen günstigen Boden finden, diese Freiheit, die auf immer aus Europa verbannt zu sein scheint. England allein bietet noch einigermaßen ein erfreuliches Schauspiel dar; die strenge Behauptung einer Verfassung, die selbst bei ihren Mängeln dennoch das Nationalglück befördert und persönliche und Eigentumssicherheit begünstigt, diese strenge Behauptung, die selbst sonst entgegengesetzte Parteien zu einem Zweck, zur Erhaltung der Verfassung, vereinigt, ist in der Tat ein erhebendes, ich möchte beinahe sagen, rührendes Schauspiel; die nachdrückliche Sprache Englands kann vielleicht Einfluß auf Ludwigs Schicksal haben, seine Verteidigung von
Desèze, Tronchet
und
Malesherbes
ist vortrefflich, und wäre man in den Departementen minder Ochsenkopf und minder fanatisch, so müßten ihnen endlich wohl die Augen geöffnet werden. In dem National-Konvent scheint die Majorität der Redner gegen die Todesstrafe und für den Appell an das Volk, andere für die Verbannung, andere für die Gefangenschaft zu sein.
Robespierre
ist, wie Du Dir leicht vorstellen kannst, für die Todesstrafe. Das sonderbarste in seiner Rede ist, daß er aus dem Grundsatze, der tugendhafteste Teil der Menschheit ist immer der kleinste, den Schluß machte, daß die kannibalenartige Minorität des Konvents der bessere Teil sei.
Du fragst mich nach der Sittlichkeit mehrerer Mitglieder? Robespierre war von jeher ein Narr – Manuel, der sich den ehrenwerten Haß der Pariser Unruhköpfe zugezogen hat, war bei der ehemaligen Polizei angestellt, wo nur wenige ehrliche Leute sich gebrauchen ließen; Condorcets unedler Charakter erhellt aus seiner Undankbarkeit gegen die Familie Rochefoucauld und aus seinem Betragen bei der legislativen Versammlung – der ganze National-Konvent enthält nur wenige ehrliche Leute; der eine Teil predigte Unordnung und Gesetzlosigkeit, bis er seinen Zweck erreicht hatte, und predigt jetzt Ordnung und Gesetzmäßigkeit, um sich in dem errungenen Vorteil zu erhalten; der andere Teil fährt fort die Anarchie zu begünstigen, weil ihm die gehofften Früchte nicht zu Teil wurden, und er noch nicht die Hoffnung, sie zu erringen, aufgegeben hat. Ich mag nicht weiter von diesen Leuten reden, die sich eher Rippenstöße, als ihrem Vaterlande weise Gesetze zu geben verstehen; die kommenden Zeiten werden sie noch strenger als ihre jetzt lebenden und erbittertsten Feinde richten. Was die kommenden Begebenheiten des folgenden Jahres sein werden, so wage ich nicht irgend eine Mutmaßung mitzuteilen; die Wirkungen des Fanatismus waren von jeher fürchterlich – Krieg scheint für Frankreich, bei
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