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Bilderbuch Aus Meiner Knabenzeit

Titel: Bilderbuch Aus Meiner Knabenzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justinus Kerner
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dem gestörten innern und äußern Handel, bei den wenigen Reizen, die Künste und Wissenschaften darbieten, und der Menge darbender Einwohner, jetzt je mehr und mehr Bedürfnis zu werden, und ich ahne noch immer, daß die französische Revolution größere Umwälzungen in Europa zur Folge haben wird.
    Seit dem Monat August befand ich mich niemals vollkommen wohl; nach den blutigen Szenen des Septembers war ich einige Tage krank, erholte mich, wiewohl nur unvollkommen; seit dem Monat November war ich zweimal schon sehr krank, daß man an meiner Genesung zweifelte. Ein fürchterliches Fieber hatte mich zum Gerippe abgezehrt; alle meine Geschäfte legte ich bei Seite und besorgte nur die Hamburger Korrespondenz, wobei mir einer meiner Landsleute in den heftigsten Tagen meiner Krankheit hülfreiche Hand leistete. Ein schleichendes Fieber machte mich beinahe zu allen Geschäften unfähig, und nur die Freude, die Dein unverhoffter Brief bei mir erregte, gibt mir hinlängliche Kraft, ihn sogleich zu beantworten.
    In Rücksicht meiner bisherigen Schicksale schreibe ich Dir noch folgendes: Am 10. August war ich auf der Wache in den Tuilerien, und ich weiß nicht, zu was mich das Schicksal noch aufbehalten hat; genug, ein Wunder erhielt mir das Leben. Ich stand an einem Seitenhofe des Schlosses (die Posten wurden immer durch das Los ausgeteilt), als die Gefahr dringend wurde, verließ uns die Kanone, die wir hatten, mit den Kanoniers und mehr denn drei Vierteil unserer Mannschaft, etwa zwanzig warfen sich in das kleine Wachthaus und erklärten, sich hier totschlagen zu lassen. (Wohl zu bemerken, daß uns ein Munizipal-Offizier, Namens Borie, vorher die Artikel des Gesetzes vorgelesen, die uns zur Behauptung unseres Postens verpflichteten. Eine Kompagnie Schweizer war auch gegenwärtig, man zog aber diese gleich nachher in den innern Schloßhof zurück.) Kaum brüllte der erste Donner, so nahm die zusammengeschmolzene Garnison Reißaus. Ich war wie betäubt, tausend Bilder von den schrecklichen Folgen, die diese Blutszenen haben würden, drängten sich mir nacheinander mit Gewalt vor; ich konnte mich nicht zur Flucht entschließen, und da saß ich allein in meiner Wachstube. Plötzlich fliegen einige Flintenkugeln an die Fensterrahmen. Vermutlich wurden sie nicht gerade geflissentlich dahin abgeschickt und sollten an den hervorragenden Teil des Schlosses gehen. Das Wachthaus stand in dem sogenannten Cour de Marsan. Jetzt fing ich an, an meine Selbsterhaltung zu denken und einen Zufluchtsort zu suchen, ich fand denselben unter dem Feldbett, oder der hölzernen Bank, auf die man sich legt. Kaum war ich unten, und alle Augenblicke glaubte ich, die Bank stürze über mir zusammen, so drängte ein Haufen von Leuten in die Wachtstube, an deren entblößten Füßen ich sah, daß sie keine Hofherren waren. Sie fanden einen guten Vorrat geladener Flinten, suchten überall über mir in den Strohsäcken und sahen zu allem Glück nicht unter das Lager. Ich hielt in diesem Augenblick meinen Tod für gewiß, übrigens behielt ich die größte Geistesruhe bei. Kaum war dieser Haufe hinaus, so verließ ich meinen Winkel, ging gerade zum Wachthaus hinaus und geriet mitten in einen Haufen von Sansculottes, die zum gegenüber befindlichen Tor herein kamen. Ich nahm eine gleichgültige Miene an, und mein Gang war so unbekümmert, daß sie mich für einen der Ihrigen hielten, und so gelangte ich in einem naheliegenden Café an, nachdem ich noch vorher hart an einem gemordeten Schweizer vorüber mußte. Kaum war ich in diesem Café angelangt, so malten sich auf meinem Gesichte alle Empfindungen, die diese schreckliche Szene auf mich hervorbringen mußte, ich eilte nach Hause, wurde unterwegs zweimal angehalten, indem ich zu zweienmalen auf an mich gerichtete Fragen antworten mußte und man aus meinem deutsch-französischen Akzent schloß, daß ich ein verkleideter Schweizer sei, mein Brevet half mir glücklich durch bis zur Wohnung eines Freundes. Ich hatte drei Nächte nicht geschlafen, das erste, was ich tat, war, mich aufs Bett zu werfen, wo ich 14 Stunden ununterbrochen fortschlief. Morgens um 6 Uhr am 10. August wußte ich schon, daß es übel mit dem Schloß aussehen würde; die kriechenden Schmeicheleien einiger Nationalgarden, die den König gleichsam führten, ihr Geschrei: »Es lebe der König!« und ihr Stillschweigen, als man rief: »Es lebe die Nation!« brachte gleich eine beträchtliche Spaltung unter der Garnison hervor; ferner

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