Bille und Zottel 01 - Pferdeliebe auf den ersten Blick
Kopf, aber du siehst und hörst nichts. Ich hab im stillen gehofft, du würdest es aus eigenem Antrieb tun, aber da das nicht der Fall ist, muß ich es dir ja wohl sagen: geh bitte jetzt als erstes in den Garten und nimm die Johannisbeeren ab.“
„Aber, Mutsch, kann ich nicht morgen — gerade heute wollte ich . • stotterte Bille, brach dann aber ab. Sie wußte zu gut, daß Mutsch recht hatte, seit Tagen hatte sie den Vorsatz, Mutsch im Garten zu helfen und hatte es immer wieder verschoben.
„Also gut“, sagte sie seufzend, „wenn ich jetzt einen großen Eimer voll pflücke und nach dem Abendbrot sie entstiele, darf ich dann heute nachmittag noch zum Reiten?“
„Na schön, aber hilf mir wenigstens noch beim Abtrocknen.“ So schnell hatte Bille noch nie in ihrem Leben Johannisbeeren gepflückt. Eine Stunde später stand der Eimer gehäuft voll auf dem Küchentisch. Bille war so heiß geworden bei ihrer Rekordarbeit, daß sie sich erst einmal ihre verschwitzten Sachen vom Leib zerrte und sich unter die Dusche stellte. Sie hatte das Gefühl, wie ein Stück glühende Kohle zu zischen, als der kalte Wasserstrahl ihren Körper traf. Genießerisch reckte sie ihr Gesicht dem erfrischenden Tropfenregen entgegen.
„Alles fertig!“ rief sie strahlend, als sie durch den Laden hinausging. „Hast du gesehen? Der Eimer läuft fast über, so viel habe ich draufgehäuft!“
„Ja, unsere Bille — für die Mutti tut sie alles, wie?“ sagte eine Kundin leutselig, die gerade einen Eimer Waschpulver bei Mutsch kaufte.
„Für mich nicht — für die Pferde!“ antwortete Mutsch ironisch. Sie sah nicht besonders glücklich aus, und Bille beschloß, morgen freiwillig den Rest der Johannisbeeren und auch noch die Himbeeren zu pflücken.
Seit Onkel Paul mit Mutsch gesprochen hatte, war kein Wort über den geplanten Umzug gefallen. Aber Bille wurde den Verdacht nicht los, daß Mutsch lediglich alles geheimhielt, um sie dann eines Tages vor die vollendete Tatsache zu stellen und den Abschied schmerzvoll, aber kurz zu halten.
Möglicherweise würde Mutsch sie damit zu trösten versuchen, daß sie ihr am neuen Wohnort Reitunterricht in einer richtigen Reitschule spendierte. Aber was konnte das schon sein gegen den Verlust der Stunden bei Herrn Tiedjen.
Bille nahm sich vor, in den nächsten Tagen besonders lieb und aufmerksam zu Mutsch zu sein, um etwas über ihre Pläne aus ihr herauszubekommen. Wie hatte sie sich auch nur so in Sicherheit wiegen können, seit dem Gespräch mit Onkel Paul! Sie hatte keinerlei Zweifel gehabt, daß er alles in Ordnung bringen würde. Und über den Pferden hatte sie mal wieder alles andere vergessen.
Nicht einmal nach seinem Besuch bei Inge hatte sie ihn gefragt. Auch das wollte sie gleich morgen nachholen. Mit diesen guten Vorsätzen stieg sie aufs Fahrrad und fuhr nach Groß-Willmsdorf hinüber.
Schon auf dem Weg zum Stall hatte Bille ein merkwürdiges Gefühl im Magen. War es Lampenfieber vor dem ersten selbständigen Ausritt? Nein — es mußte etwas passiert sein.
Bille warf das Rad gegen die Stallmauer und rannte hinein. Drinnen war es totenstill. Kein Schnauben, Rascheln oder fröhliches Wiehern zur Begrüßung — nur ein paar Fliegen brummelten träge in der Mittagshitze.
Die Tür zur Box stand weit offen, von Zottel keine Spur! Er hatte es also tatsächlich geschafft. Bille hatte schon manchmal den Verdacht gehabt, es könne ihm gelingen, die Tür von innen zu öffnen, hatte den Gedanken aber wieder verworfen, da es ihr unmöglich schien, daß er den Riegel erreichen würde. Er mußte im Zirkus bei einem Entfesselungskünstler in die Lehre gegangen sein!
„Zottel! Zottel! Verflixt nochmal, wo steckst du denn!“
Im Stall war er nirgends. Kunststück, die Stalltür hatte ja auch weit offengestanden. Seufzend machte sich Bille auf die Suche.
Zottel hatte sich an diesem Nachmittag besonders gelangweilt. Die anderen Pferde waren auf der Koppel, nur er mußte hier im Stall warten, bis seine Herrin geruhte, sich um ihn zu kümmern. Und weil er sich so langweilte, steckte er den Kopf durch die Gitterstäbe der Box, sah sehnsüchtig auf die weit-geöffnete Stalltür und begann spielerisch mit dem Maul nach dem Holzpflock zu schnappen, der schräg unter ihm aus dem Türverschluß ragte. Irgendwann einmal war der Metallzapfen abgebrochen und man hatte ihn provisorisch durch ein Stück Holz ersetzt. Das kam Zottel zu Hilfe. Er reckte den Hals noch ein wenig mehr und konnte den
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