Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
holen.
Während ihres letzten Jahres auf der Universität hatte Lydia auch Kriminalrecht studiert und Vorlesungen in Gerichtsmedizin belegt; dabei hatte sie ein gerütteltes Maß an Makabrem mitbekommen.
Daher bewahrte sie auch kühles Blut, als sie allein vor der bluten-den Leiche des jungen Delagrave stand.
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Sie hatte auf dem Blatt Papier, das zu Füßen des Toten lag, die Handschrift Flavios erkannt. Und sie nahm auch sofort die Verpackung des Päckchens wahr, die leere Umhüllung einer Videokassette und den eingeschalteten Bildschirm. Und dann hatte sie, ohne einen Augenblick nachzudenken, etwas Unerklärliches getan, was allem zuwiderlief, das man ihr während ihres Studiums beigebracht hatte: Sie hatte den Brief eingesteckt und dann auch die Kassette, die sie aus dem Recorder genommen hatte. Wie hatte sie die Zusammenhänge aufgrund so weniger Indizien nur erahnen können?
Das hatte sie sich seither schon oft gefragt.
Sie war aus dem Zimmer gegangen und kurz darauf einem her-beistürzenden Sicherheitsbeauftragten begegnet, dem die um Atem ringende Renata folgte. Dann erschien mit schwerem Schritt Botschafter Delagrave, der ungläubig den Kopf schüttelte, um das zu verneinen, was ihm doch schon Gewissheit war.
Am frühen Morgen des folgenden Tages hatte sich Lydia zum Anwesen der Bugliones begeben. Sie hatte eine schlaflose, furchtbare Nacht hinter sich. Ihr ganzes Leben hatte sich innerhalb weniger Stunden verändert.
Der Hausherr nahm gerade auf der Terrasse des Orsini-Palastes sein Frühstück ein, gegenüber einem kleinen Schwanenteich; ein enger Mitarbeiter und sein Privatsekretär waren bei ihm, und zwei Leibwächter hatten ein wachsames Auge auf die Umgebung. Nachdem er einen Blick auf die sich nähernde junge Frau geworfen hatte, stand Enrico auf und zog sie wortlos mit sich in sein Büro.
Mit einer Handbewegung bat er sie um Schweigen. Er selbst blieb mit verschränkten Armen vor dem Fenster stehen und betrachtete mit stummem, schmerzlichem Blick die vielhundertjährigen Bäume im Park draußen. Dieser ganze Besitz, all sein Reichtum, all seine Macht… Als er sich umdrehte, stand vor Lydia ein vom Schicksal 249
Gebrochener, mit flehenden Augen und einer Seele, die sich zusammenkrümmte, um dem Schmerz, der sie jetzt treffen musste, weniger Angriffsfläche zu bieten.
»Du bist nicht gekommen, um mir von Frédéric zu berichten.«
»Nein.«
»Du warst dort, ich weiß es. Selbstmord, bist du sicher?«
»Ja.«
Er hatte die Augen geschlossen. Als er sie wieder öffnete, war die Trauer dem Zorn gewichen.
»So sprich endlich, um Himmels willen!«
»Flavio ist tot.«
Sie reichte ihm den Brief, und er las ihn. Seine Hände hörten auf zu zittern. Nachdem er jetzt die Wahrheit kannte, verbarg er seine Gefühle. Lydia wurde an einen verletzten Tiger erinnert, der sich verbirgt, um seine Wunden zu lecken.
»Das ist noch kein Beweis!«, befand er und steckte das Blatt ein.
»Aber du wirkst so sicher. Es muss da noch etwas anderes geben …«
Ihr fehlten die richtigen Worte. Wie sollte sie ihm das Video beschreiben, ohne ins Detail zu gehen? Dabei hatte sie geglaubt, sich darauf vorbereitet zu haben. Wieso versagte ihr jetzt die Stimme, und sie kam ins Stammeln?
»Du hast diesen Film an dich genommen? Natürlich, welch dum-me Frage! Hast du ihn bei dir?«
Unwillkürlich legte sie die Hand auf den Verschluss ihrer Handtasche. Wie hatte sie nur annehmen können, dass er sich mit Halb-wahrheiten zufrieden geben würde?
»Ich bin bereit, Ihnen alles zu sagen, alles zu berichten, was ich gesehen habe«, stammelte sie mit trockenem Mund. »Aber Sie können das, Sie dürfen das nicht sehen! Ich flehe Sie an!«
Enrico hatte einen Schrei wie ein weidwundes Tier ausgestoßen und mit gebieterischer Geste die Hand ausgestreckt. Mit harten Augen hatte er gefordert: »Her damit!«
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Wenige Wochen später hatte das Innenministerium eine Eliteein-heit zusammengestellt, die in keinem Organisationsplan verzeichnet war und in keinem Jahresbericht auftauchen würde. Finanziert wurde sie aus einem geheimen Sonderfonds. Man zweigte dafür kleinere Teilbeträge aus den Etats verschiedener Regierungsstel en ab, hinzu kamen verdeckte Zuschüsse von einem halben Dutzend Frei-maurerlogen und dem Firmenimperium Bugliones.
Die Einheit Casus Belli bestand aus fünf Leuten unter Leitung eines ehemaligen Polizeioffiziers, Luigi Sanguinetti, eines Veteranen der berühmten ›Schwadron zur Bekämpfung des
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