Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
mit beklommenem Herzen bestürmt von einer Abfolge von Bildern, von schemenhaften Erinnerungen, von Details, denen sie zunächst keine sonderliche Beachtung geschenkt hatte. Sie stellte eine Verbindung zwischen dem zweideutigen Benehmen Gabriellas und den peinlichen Fragen her, die ihr Jean-Louis vor dem Un-tersuchungszimmer gestellt hatte. Dann wiederum machte sie sich Selbstvorwürfe wegen ihrer Verdächtigungen und wies diese voller Abscheu zurück. Nein, sie waren infam und durch nichts begründet.
»Ist etwas?«, fragte Kiersten.
Laurence fing sich wieder, konnte jedoch ihren bohrenden Blick kaum ertragen.
»Ich dachte an Catherine«, schwindelte sie. »Ihr Zustand beunruhigt mich. War sie allein, als sie hinkamen? Eigentlich hätte doch diese Krankenschwester da sein müssen …«
»Ihre Freundin hat mich sehr freundlich empfangen und schien voll auf der Höhe zu sein.«
»Sie hat Ihnen eine Komödie vorgespielt! Und Sie selbst? Sie wussten doch schon, dass ich Gabriella kenne! Sie haben mir das Foto gezeigt, um zu sehen, wie ich reagiere, nicht wahr?«
Kiersten war keineswegs gekränkt durch ihren aggressiven Ton.
Sie zeigte vielmehr ein anerkennendes Lächeln, als sei sie froh da-rüber, endlich die Maske fallen lassen zu können.
»Es ist mir klar, dass ich auf eine unmögliche Art hereingeschneit bin. Aber ich musste Sie unbedingt und schnellstens treffen. Ich hätte es vorgezogen, Sie in einem günstigeren Augenblick kennen zu lernen, um mehr über Ihren Aufenthalt in Xaghra zu erfahren.
Die Verantwortlichen der Sekte zeigten sich nicht sehr kooperativ.
Sie behaupteten, die Kleine sei entflohen. Dabei hatten sie vorher beteuert, sie hätte im Heiligtum sehr glücklich gewirkt. Das verstehe, wer will!«
Das Taxi fuhr nun zügig durch die wenig belebten Straßen von 272
Passy, und man war kurz vor dem angegebenen Ziel. Laurence nahm an, dass dem Taxifahrer kein Wort von ihrem Gespräch entgangen war. Als sie seinem Blick im Rückspiegel begegnete, hatte sie daran keinen Zweifel mehr.
»Jetzt rechts, und dann noch ein kurzes Stück; dort, das große Gittertor«, sagte sie zu ihm.
Kiersten verkündete, dass sie ihre Absicht geändert habe: Sie wolle jetzt doch hier aussteigen und sich dann ein bisschen im Viertel umsehen, ehe sie mit der Metro in ihr Hotel fahre.
Laurence gab keinen Kommentar dazu. Sie hatte eine große Um-hängetasche aus weichem Leder geöffnet und bestand darauf, das Taxi zu bezahlen.
»›Musée Louis-Philippe Desaulnier‹«, las Kiersten. »Na, das hat aber Stil!«
»Es ist nur für wenige Tage«, erläuterte Laurence, »bis ich etwas Passendes gefunden habe.«
»Erstaunlich ruhig hier … Man kann kaum glauben, dass man in Paris ist. Kommen Sie, ich nehme Ihren Koffer, das ist das Mindeste, was ich Ihnen schuldig bin.«
Sie traten durch das angelehnte Gittertor ein und blieben dann vor dem Dienstboteneingang hinten im Hof stehen. Laurence warf einen Blick über die Schulter und beugte sich dann zu einem runden Stein auf dem schmalen Blumenbeet hinunter. Sie holte einen altmodischen Schlüssel darunter hervor, den sie abwischte, ehe sie ihn ins Schloss steckte.
»Es ist jemand im Haus«, erläuterte sie dabei ihrer amüsiert lä-
chelnden Begleiterin. »Aber wir haben eine Vereinbarung … Wollen Sie einen Augenblick mit hereinkommen?«
Kiersten hatte den Koffer auf der obersten Treppenstufe abgestellt; mit einer solchen Aufforderung hatte sie nicht gerechnet.
273
In der großen, düsteren Eingangshalle roch es dumpf und ungelüftet. Durch die offen stehenden Türen erblickte man die schweigende Versammlung der Statuen des Preisträgers von Monaco. Sie hatten etwas Pathetisches und Beunruhigendes an sich, und die feine Staubschicht schien wie eine schwere Last auf ihren Schultern zu liegen.
Laurence stellte ihr Gepäck am Fuß der Treppe ab. Warum fühlte sie sich plötzlich bedrückt?
»Gabriel a wird doch nicht ohne Grund entflohen sein!«, murmelte sie. »Sie schien sich doch recht gut mit ihrer Tante zu verstehen …«
»Genau das hat man mir auch versichert. Sind Sie selbst Mirandistin, Laurence?«
»Nein. Ich bin nach Xaghra gereist, weil ich dort einen Kollegen treffen wollte, um bestimmte Dinge mit ihm zu klären …«
»Berufliche oder persönliche?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen, und es hat auch nichts zu tun mit… Warum eigentlich beschäftigt sich die kanadische Polizei mit dieser Angelegenheit?«
»Darauf wollte ich gerade zu
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