Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Seite, um sie hineingehen zu lassen.
Drinnen ließ der massige Mann sein Opfer los, aber nur, um es entsprechend für die Flucht zu bestrafen. Er versetzte ihm, vor Wut schäumend, drei kräftige Ohrfeigen, abwechselnd mit der Vorder-und der Rückseite seiner Hand. Dann drehte er sich um und stapf-te hinaus, drohend die Fäuste schüttelnd und wilde Flüche aussto-
ßend. Sandrine machte zwei schwankende Schritte und ließ sich, hilflos die Arme schwenkend und benommen, auf einen Mehlsack fallen; hinter ihr schlug die schwere Tür zu. Im letzten Augenblick erhaschte sie durch einen schmalen, sich rasch schließenden Spalt einen schwermütigen Blick Manuels. Sie glaubte darin Mitleid und Furcht zu erkennen. Und dazu einen Anflug ungestillter, beunruhigender Neugier…
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Aus irgendeiner dunklen Ecke tauchte das andere Mädchen auf und drückte ihr eine Birne in die Hand. Dann lehnte sie ihren Kopf an die Schulter der Geschlagenen, als wolle sie in einer Um-kehrung der Rollen getröstet werden.
Einen langen Augenblick lang verharrten beide schweigend.
Dann führte Sandrine die Frucht an die Lippen. Der feine Geschmack und die saftige Frische führte sie in die Wirklichkeit zu-rück. Nie zuvor hatte sie eine Birne derart genossen! Und selbst wenn in einem nahen Korb noch ein paar Dutzend davon lagen, hatte diese doch einen ganz einzigartigen Geschmack durch die damit verbundene Geste der Freundschaft.
»Sono Gabriella.«
»Gabriella heißt du, ja? Und ich Sandrine.«
»Sandrine…«
»Wie alt bist du? Nein, das hat wohl keinen Sinn. Warte …«
Sie beugte sich vor, hob ein kleines Stück von einem abgebroche-nen Zweig auf und kratzte damit in den gestampften Lehmboden die Zahl Fünfzehn. Dann legte sie eine Hand auf die Brust, deutete mit der anderen auf die Zahl und sagte: »Ich fünfzehn. Und du?«
Sie war sehr überrascht, dass die kleine Italienerin mit dem Stückchen Holz eine Siebzehn in den Boden ritzte. »Dass sie kein kleines Mädchen mehr ist, konnte ich ihr ja ansehen«, dachte sie. »Aber ich hätte doch niemals geglaubt, dass sie zwei Jahre älter ist als ich!«
Gabriella zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und suchte nach der am wenigsten schmutzigen Ecke. Diese zog sie über ihren Zeigefinger und befeuchtete sie mit Spucke. Dann kniete sie sich vor ihre Leidensgenossin und begann, ihr Gesicht zu säubern.
»Was machst du da? Zeig mal!«
Sie erkannte Blutspuren auf dem Taschentuch, und mit heftigem Zorn fiel ihr ein, dass der Mulatte noch kurz, ehe er sie geohrfeigt hatte, seinen Ring mit einem großen Stein darauf nach innen ge-377
dreht hatte, um sie mit dessen Kanten zu verletzen. Sie sprang ruck-artig auf und rannte in den primitiven Toilettenraum, um sich dort das Gesicht mit Wasser zu kühlen. Nachdem sie vergeblich nach einem Spiegel oder einer sonstigen reflektierenden Fläche Ausschau gehalten hatte, kam sie auf die Idee, die Kernseife zu benutzen, und dann merkte sie durch den dadurch ausgelösten beißenden Schmerz, an welcher Stelle sie verletzt war.
Als sie zu Gabriella zurückkehrte, erwartete diese sie schon mit einem Henkelkorb am Arm, als ob sie Einkäufe auf dem Markt machen wollte. Und tatsächlich machte sie ihr ein Zeichen, sie zu begleiten. Sollte das eine Ablenkung sein, um sie auf andere Gedanken zu bringen? Oder eine Art von Ritual? Wie auch immer: Sie führte sie in das Labyrinth und hielt hie und da an, um etwas in den Korb zu legen. Und sie verfolgte dabei eine ganz bestimmte Methode, indem sie stets nur ein einziges Stück nahm, es ihrer Begleiterin zeigte und dabei dessen Namen nannte – un porro, Lauch; una pesca, ein Pfirsich; del basilico, Basilikum; un melograno, ein Gra-natapfel; del corlándolo, Koriander; un cavólo, ein Kohlkopf; del finocchio, Fenchel; un grappolo d'uva, eine Weintraube …
Von dem Spiel ganz gefangen genommen, sprach Sandrine die italienischen Bezeichnungen aufmerksam nach und wiederholte sie, bis ihre Lehrmeisterin mit der Aussprache zufrieden war. Dabei merkte sie zu ihrem Unbehagen, dass ihr noch nicht einmal in allen Fällen die französischen Ausdrücke für die verschiedenen Früchte, Gemüsesorten und Gewürze geläufig waren.
Am Ende ihres Rundganges war der Korb gefüllt. Dass die beiden Gefangenen hier im Lagerhaus zumindest nicht verhungern müssten, stand fest. Trotzdem stellte um die Mittagszeit Dragos ein Tablett mit einem Brotkanten, einem Stück Käse und einer halben Wurst herein. Er ließ unergründliche
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