Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Rechenschaft schuldig.« Dann aber schien ihr ein Einfall zu kommen, sie zog einen Kugelschreiber hervor und packte Sandrine am Handgelenk. Als diese sich wehrte, schnalzte sie beruhigend mit der Zunge und schrieb ihr etwas auf den Unterarm.
»Guardos negril – Schwarze Garde!«, las sie mit gesenkter Stimme vor. »Du hast vorhin lange gezögert mit deiner Antwort. Wenn dir die Männer hier zu nahe kommen, brauchst du nur diese beiden Worte auszusprechen. Das ist wie ein Talisman!«
»Und was heißt es?«
»Dass du unter dem Schutz des Schwarzen Ordens stehst. Du kannst ganz beruhigt sein, die wissen gut, was das bedeutet!«
Sandrine wandte den Kopf. Sie sah, wie in der Tür zur Lagerhalle der Mann mit dem rasierten Schädel Stavros Geld gab und dieser sich wiederholt verbeugte. Welch ein Heuchler auch er!
Wenn sie ihn nur anschaute, kam ihr schon die Galle hoch.
»Niemand kann mich schützen!«, schrie sie. »Sie werden mich beseitigen müssen, und Gabriella sicher auch! Und wer sagt uns schon, dass nicht vielleicht Sie selbst es sind, die dieses dreckige Geschäft erledigt?«
Sie verstummte, durch ihre eigenen Worte erschreckt. Und sie trat unwillkürlich, obwohl ihr Körper sich dagegen sträubte, einen Schritt zurück. Sie hätte es nie für möglich gehalten, in den Augen 381
einer Frau einen solch harten und kalten Blick zu sehen. Jasmine wandte sich ab und ging hinaus.
Am hellen Nachmittag plötzlich ein Regenschauer. Kaum hatte das Getrommel auf dem Wellblechdach aufgehört, eine Überraschung an der Klappe des Frontfensters: Ein an einem Strick herabgelassener Korb. Darüber zeigte sich das dunkle Gesicht Manuels; unten reckten sich die Arme der Mädchen dem Manna entgegen: eine halbe Flasche Wein, ein trockener Rosinenkuchen, zwei Stücke Schokolade und drei dicke, mit weißem Puder überzogene Würfel.
»Okay da droben?«, rief Sandrine hinauf.
»Si, okay«, kam die Antwort. »Un vigliacco, ma non è cattivo!« – Ein gemeiner Kerl, aber nicht bösartig!
Die Mädchen stellten die Liebesgaben auf das Tablett, das Dragos gebracht hatte, und machten sich, auf leeren, zusammengefalteten Mehlsäcken sitzend, die sie in den Rang von Sofas erhoben, ans Schmausen. Sie brachen Stücke von dem Brot und bissen herzhaft von der Wurst ab. Gabriella nahm einen kräftigen Schluck von dem Wein und reichte die Flasche weiter mit den Worten: »Raspa la gola!« Auch Sandrine tat einen guten Zug und schnalzte, da sie nicht nachstehen wollte, mit der Zunge. Den Kommentar der Italienerin hatte sie zwar nicht verstanden, aber das war auch ohne Bedeutung: Sie hätte ohnehin einen Rachenputzer nicht von einem edlen Tropfen unterscheiden können. Sie griff nach einem der ge-puderten Würfel.
»Was ist das?«
»Loukoum Buono!«
Die Ansicht, dass das fein sei, teilte Sandrine allerdings nach kurzem Kosten nicht: »Deguenlasse!« – ekelhaft! Diesmal bemühte sich die kleine Italienerin, ihr den abwertenden Ausdruck nachzuspre-chen.
Schließlich teilten sie sich den Kuchen und leerten gemeinsam 382
die Flasche.
Dann stand Gabriella auf und holte den Korb herbei, den sie vorher beim Gang durch die Lagerhalle gefüllt hatte. Als sie einen Lumpen liegen sah, nahm sie ihn auf und wedelte damit Staub weg.
Sandrine schaute ihr zu und lächelte ohne rechten Grund; sie war etwas angesäuselt. Sie ließ sich mit dem Lappen die Augen verbinden und war gespannt auf das Spiel, das Gabriella offensichtlich mit ihr vorhatte. Warum musste sie nun auch noch die Hände auf den Rücken legen?
»Cos'è?«
Etwas wurde ihr unter die Nase gehalten und ans Gesicht ge-drückt, und sie begriff:
»Eine Melone. Me-lo-ne!«
»Si! E questo?«
Das war schon weniger leicht… Ach ja, Lauch war das wohl! Aber wie hieß das noch gleich auf Italienisch? Sie hatte es doch dreimal wiederholen müssen…
»Il porro?«
»Brava! E di la?«
»Das riecht nach Anis …«
»Ma Che! E un finocchio! Il prossimo è più facile.« – Aber nein, Fenchel ist das! Das Nächste ist leichter.
Sandrine erriet richtig den Pfirsich, die Erdbeeren und Basilikum.
Bei der Pflaume, der Feige und dem Koriander gelang es ihr jedoch nicht. Schließlich riss sie sich die Augenbinde herunter, aber nicht etwa, weil sie des Spiels müde gewesen wäre – in ihrer derzeitigen Lage war jede Ablenkung willkommen –, sondern weil sie die Dunkelheit nicht länger ertrug.
Gabriella klatschte lachend Beifall. Dann setzte sie sich wieder neben sie und gab ihr einen Kuss
Weitere Kostenlose Bücher