Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
jetzt aufgeladen, das war wie ein Adrenalinstoß für den schwächelnden russischen Psychiater. Und nun komme, was da wolle!« Mit entschlossenen, wenn auch noch etwas wackeligen Schritten kehrte er in den Atelierraum zurück.
Kiersten sah ihn mit Erleichterung eintreten. Sie erwartete sich zwar nichts mehr von dieser beklagenswerten Inszenierung, ertrug aber kaum noch länger sowohl ihre eigene Verunsicherung als auch das erniedrigende Warten in Gesellschaft dieses Mannes, der ihre Tochter entführt hatte und jetzt in der älteren Nummer einer wissenschaftlichen Zeitschrift blätterte und dabei ein gelangweiltes Gähnen kaum verbergen konnte. Wie hatte sie sich nur auf eine derart verrückte Unternehmung einlassen können! Lydia hatte schon 403
Recht gehabt, sie war tatsächlich zur Zeit zu objektiven Entscheidungen nicht in der Lage. Aber sie hatte sich beeindrucken lassen durch Laurences Beteuerungen über die ›Kräfte‹ dieses berühmten Therapeuten. Was für ein Fehler!
Immerhin hatte sie auch eine Entschuldigung parat. Denn zu Beginn ihrer Laufbahn hatte sie im Zuge einer Ermittlung einer Hyp-nosesitzung in einem Krankenhaus von Vancouver beigewohnt. Der Beschuldigte, ein gewisser Cliff Gorman, ein psychopathischer Mörder, hatte sich ihr aus Imponiergehabe und in der Überzeugung, seinen Kopf aus der Schlinge ziehen zu können, unterworfen. In einen Dämmerzustand versetzt, hatte er unter dem unwiderstehlichen Zwang eines fremden Willens seine Taten gestanden, von sich in der dritten Person sprechend. Sie hatte dieses Erlebnis nie vergessen. »Nun ja, aber die Umstände sind nicht vergleichbar«, sagte sie sich entmutigt. »Gorman hatte sich ja freiwillig hypnotisieren lassen, während Becker … Ich hätte mich lieber auf meinen ersten Eindruck verlassen sollen: Der Russe ist ihm einfach nicht gewachsen.«
»Bleiben Sie bitte an Ihrem Platz!«, sagte Fjodor Gregorowitsch zu ihr. »Ihre Ausstrahlungen sind ja noch schlimmer als vorhin! Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie kränken muss. Aber Sie haben obendrein kein Vertrauen zu mir.«
Ohne sich weiter um sie zu kümmern, nahm er wieder seinen Platz gegenüber von Jean-Louis ein.
»Geht's wieder besser?«, fragte dieser, die Augen von der Zeitschrift hebend.
»Mir keineswegs! Aber ging es denn der kleinen Gabriella gut, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben? Nein, Sie brauchen nicht wie aus der Pistole geschossen zu antworten; denken Sie lieber gut nach, das ist wichtig. War sie vielleicht krank?«
»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich auf einen so plumpen Trick hereinfalle!«
»Nein – ich weiß nicht so recht, aber vielleicht doch. Jedenfalls 404
fühle ich in meinem Solarplexus die schwarzen Flammen des Hasses, wenn Sie an sie denken. Es schmerzt, ist aber eine willkom-mene Ermutigung, fortzufahren.«
»Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie mit Ihrem Zirkus fertig sind…«
»Das Auspressen des Schwammes ist eine wichtige Vorbereitung!«
(Der von Fjodors Stirn rinnende Schweiß wirkte wie eine ironische Unterstreichung seiner Worte.) »Wenn ich nachlasse, nimmt er Magma auf, und ich werde aufgebläht. Ich weiß, dass ich es schlecht zu erklären verstehe. Also: Sie lassen mich machen, und ich übernehme es. Mit Zustimmung ist das besser, in ethischer Hinsicht.
Kann ich also?«
»Machen Sie doch, was Sie wollen!«, antwortete Becker und ließ sich in seiner Lektüre nicht weiter stören.
Laurence riss sich aus ihren Gedanken und spürte die Anwesenheit der Freundin neben sich. Sie hatte gar nicht wahrgenommen, dass sie herangetreten war. Als sie sah, wie bleich sie war, erschrak sie.
»Es ist geschafft, nicht wahr? Sie verstehen jetzt wohl, warum ich nicht…«
Kiersten unterbrach sie, um ihr zu sagen, dass man sie drinnen brauche, sofort und dringend. Trotzdem blieb sie selbst wie fest ge-wurzelt stehen – zweifellos eine Reaktion auf das unglaubliche Geschehen, dessen Zeugin sie soeben geworden war.
»Sie können sich das nicht vorstellen! Wenn ich so etwas im Kino sehen würde … Es ist einfach unglaublich! Zum ersten Mal verstehe ich den Ausdruck, dass man meint, ›seinen Augen nicht trauen zu können‹.«
»Ich kenne das, ich habe es schließlich selbst durchgemacht. Sie haben ihn ohne Bewachung gelassen?«
»Warten Sie, bis Sie ihn sehen! Abgesehen davon, käme er nicht weit: Unten ist Le Bouyonnec mit einem Kollegen von der französi-405
schen Kriminalpolizei.«
»An diese Art von Flucht hatte ich eigentlich weniger
Weitere Kostenlose Bücher