Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Beifahrersitz des kleinen Lieferwagens in der Obhut der Mirandistin gelassen. Sie hatte also, wie er gehofft hatte, nicht gezögert, darin herumzustöbern.
Und der ominöse Umschlag war dabei, wie anderes auch, gleich untersucht worden.
El Guía las den Brief mit großer Aufmerksamkeit und legte ihn auf den Hauptaltar, von dem ihn sich Argos holte. Selbst mit diesem also vermied El Guía sichtlich den direkten Kontakt. Dann vertiefte er sich ohne spürbare Ungeduld oder Aufregung in die übrigen Dokumente, obwohl die daraus hervorgehenden Neuigkeiten doch alarmierend sein mussten. Denn Jean-Louis bat um Verlängerung seines Aufenthalts in Paris, weil er dort entscheidende Informationen erhalten habe, vor allem im Hinblick auf die geplante Verhinderung der Großen Versammlung. Er müsse unbedingt hier an Ort und Stelle bleiben, um den Druck auf die Kanadier und die Italiener in dieser Angelegenheit zu verstärken. Zum Schluss ging er ausführlich auf ›seinen Freund Delanoy‹ ein.
»Mein Erster Ratgeber scheint große Stücke auf Ihre Loyalität zu setzen. Ich bin sehr beeindruckt. Er ist nicht der Mensch, der sich leichtfertig für jemanden verbürgt.«
»Jean-Louis? Ganz im Gegenteil – das personifizierte Misstrauen!
Aber wir kennen uns seit Jugendtagen, wir waren im gleichen Schachclub. Er hat mich immer geschlagen. Wenn er weitergemacht hätte, wäre er heute Großmeister, da bin ich ganz sicher!«
»Jugendfreundschaften sind oft überaus wertvoll. Er hat ihnen auch geholfen, wenn ich nicht irre …«
»Das kann man wohl sagen! Er war der Einzige, der mich nicht 411
hängen ließ! Und für mich war es eher überraschend, denn gesprä-
chig war er eigentlich nie.«
D'Altamiranda überflog die Zeitungsausschnitte, und auf seinem gebräunten Gesicht erschien ein Anflug von wohlwollender Anteilnahme.
»Ihr Leben war von Prüfungen geprägt… Auch von Versuchungen, denen Sie nicht widerstehen konnten. Wir haben Verständnis für solche Dinge…«
Die Lockerheit des Neuankömmlings wich einem Anflug von är-gerlichem Unbehagen.
»Warum hat er Ihnen denn davon schreiben müssen! Das wäre doch nicht nötig gewesen! Die Vergangenheit sollte erledigt sein …«
Auch die Zeitungsausschnitte wurden auf den Altar gelegt, wie ein seltsames Opfer für eine dunkle Macht. Sie bezogen sich auf den Prozess und die Verurteilung eines Informatikers der Nationalen Handels- und Entwicklungsbank namens Michel Delanoy. Die Geschichte hatte seinerzeit ziemliches Aufsehen erregt wegen der Gerissenheit, mit der dieser seine Veruntreuungen begangen hatte.
Ein Journalist hatte ihn als ›dämonisches Computergenie‹ bezeichnet, und man war ihm nur auf die Schliche gekommen wegen einer im Grunde belanglosen Verfehlung, die gar nichts mit seinen trick-reichen Unterschlagungen zu tun hatte.
»Wenn ich unseren gemeinsamen Freund Jean-Louis richtig verstehe«, sagte El Guía, »haben Sie Ihre berufliche Tätigkeit nach einer bedauerlichen Unterbrechung von einigen Jahren wieder aufgenommen…«
»Aber nein! Sie haben mir wegen guter Führung zwar einen Straf-nachlass gewährt, aber mit der Auflage, nicht wieder in meinem Beruf tätig zu werden. ›Um mich vor Versuchungen zu bewahren‹, meinten sie dazu. Inzwischen bin ich seit drei Jahren ohne feste Anstellung.«
Das alles war natürlich ein geschickt aufgebautes Märchen. Bei 412
seiner Entlassung aus dem Gefängnis war der wirkliche Michel Delanoy stehenden Fußes von der französischen Kriminalpolizei engagiert worden und dort inzwischen einer der geschätztesten Spezialisten für Entdeckung und Verhütung von Computerbetrug.
Thierry war mit ihm in Paris auf Vermittlung von Kiersten und Kommissar Le Kerroch zusammengetroffen. Sie hatten viele Stunden gemeinsamer Vorbereitung miteinander verbracht und dabei ihre gegenseitige Sympathie füreinander entdeckt. Als er dann in die Haut des anderen schlüpfte, hatte Thierry sich nahezu widerwillig dabei ertappt, dass er sogar dessen Tonfall und seine spöttische, ironische Art nachahmte. Fünf Jahre in Fleury-Mérogis hatten ihre Spuren hinterlassen …
»Am Telefon erschien uns der Erste Ratgeber etwas… angegriffen.
Von einer schweren Magenverstimmung war die Rede. Wie geht es ihm denn inzwischen?«
»Es hatte ihn schwer mitgenommen. Na ja, mit verdorbenen Aus-tern ist nicht zu spaßen. Aber es ist da wohl noch etwas …«
»Müssen wir uns Sorgen machen? Ich frage Sie das als Freund von Jean-Louis, damit wir
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