Binding, Tim
hätte es ihn nie gegeben. Ich musste lachen. Wenn
es hier damals schon so ausgesehen hätte wie jetzt, wäre das alles gar nicht
passiert. Nicht mir, nicht Torvill, nicht Dean, nicht Audrey und auch nicht der
armen Seele, die an ihrer Stelle hier oben aufgetaucht war.
Ich ging runter zum Rand, und der Windstoß, der das Kliff
heraufgeweht kam, traf mich ins Gesicht. Ich hatte das schon einmal gemacht,
und es hätte mich beinahe das Leben gekostet. Aber ich musste es noch einmal
tun, hinunterblicken auf das, was ich getan hatte. Die Felsen waren
unverändert, obwohl sich links von mir ein Teil des Kreidegesteins gelöst
hatte. Irgendwo da unten lagen die Knochen einer Frau, die ich umgebracht
hatte, nicht genau da, aber irgendwo an der Küste, ganz sicher. Normalerweise
zieht die Strömung sie ein paar Meilen mit, bis sie zwischen den Touristen in
Höhe der Durdle Door wieder auftauchen, aber nicht so diese Frau. Sie war auf
dem Meeresgrund geblieben, nur in Gesellschaft von Krabben und Hummern. Oben
hatte sie niemand vermisst, als hätte sie nie existiert. Ich glaube, deshalb
musste ich es wissen. Ich fand das einfach nicht in Ordnung so.
Ich kehrte zurück zu der Stelle, wo der Ginsterbusch gestanden
hatte, ging in die Hocke, versuchte, es mir vorzustellen. Die Erinnerung ist
schon eine komische Sache. Es heißt, wenn du dich an irgendwas erinnern willst,
denk nicht dran. Es fällt dir dann wieder ein, wenn du am wenigsten damit
rechnest. Also, ich hatte im Knast möglichst nicht dran gedacht, und mir war
gar nichts wieder eingefallen. Aber jetzt, wo ich wieder hier war, spürte ich
auf einmal alles, wie ich in dem Busch gewartet hatte, wie ich mich geduckt
hatte, mich kaum getraut hatte zu kucken, wie ich sie in Sicht kommen sah, in
ihrer gelben Öljacke, verschwommen durch den Regen, mit erhobenem Kopf,
schreiend. Ich schloss die Augen, versuchte, diese Masse Gelb zu spüren,
versuchte, sie so zu spüren wie an dem Tag damals, als ich zu ihr hinlief,
wobei dieser Laut aus ihrem Mund kam - ich konnte ihn tatsächlich ein wenig
hören, irgendwo tief in mir vergraben. Es war kein gewöhnlicher Schrei, obwohl
es sich bei dem Wind und Regen für mich so angehört hatte, nein, es war mehr
als ein Laut, eher ein Name oder ein Singsang, irgendwas, das für sie eine
Bedeutung hatte. Und sie hatte die Arme ausgestreckt, weil sie danach rief.
Aber ich konnte es noch nicht verstehen. Vielleicht würde es mir ja noch
irgendwann einfallen.
Als ich wieder zu Hause war, kam mir der Bungalow richtig
seltsam vor, hohl, als wäre er eine Hülle, in der ich lose steckte. Leerer
Kühlschrank, leere Speisekammer, leerer Kleiderschrank, nicht mal ein Stapel
alter Zeitungen oder ein paar zerdrückte Bierdosen, die für ein bisschen Leben
gesorgt hätten. Ich ließ den Citroën an und fuhr nach Dorchester. Es war
herrlich, wieder am Steuer zu sitzen, wieder diese Macht zu haben. Genau das
ist Freiheit - überall hinfahren zu können, einfach so. Es war ein ganz anderer
Wagen als der Vanden Pias. Der Vanden Pias war ein Geschäftsfahrzeug gewesen,
für feine Pinkel, die im Fond sitzen und die Welt da draußen von oben herab betrachten.
Der Citroën mochte Menschen. Er wollte, dass du dich wohlfühlst. Er hatte mehr
Herz, mehr Pep, mehr Saft. Alice hatte recht. Sobald du den Motor anließest und
sahst, wie der Wagen vorne hochkam, wusstest du, was er wollte. Und du wolltest
es auch.
Ich parkte in der Innenstadt und ging einkaufen. Eigentlich
war es ganz gut, dass Audrey meine alten Sachen weggeschmissen hatte. Es hätte
mir sowieso nichts mehr gepasst, so dünn war ich geworden. Ich kaufte mir zwei
Anzüge, einen dunklen, einen hellen, und eine schwarze Wolljacke. Ich besorgte
mir einen Stapel Hemden (überwiegend weiß), kurzärmelig, langärmelig, und ein
halbes Dutzend weiße T-Shirts. Ich hatte Lust, Weiß zu tragen, als wäre ich
eine unberührte Braut, ganz jung und frisch, als sähe ich die Welt mit anderen
Augen. Ich kaufte mir auch ein schickes Paar Schuhe, salopp mit Quasten, und
Sportschuhe. Ich spürte meinen federnden Gang. Ich ging in ein Reisebüro und
nahm mir einen Armvoll Kataloge mit, hauptsächlich Kreuzfahrten. Bald würde ich
mir eine leisten können, Erste-Klasse-Kabine, ein Platz am Tisch des Kapitäns,
heiße Mädels, die nur darauf warteten, flachgelegt zu werden. Auf dem Rückweg
hielt ich an einem Supermarkt, der die ganze Nacht geöffnet hatte, und füllte
den Einkaufswagen, als wäre Weihnachten,
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