Binding, Tim

Sie haben eine nagelneue Überwachungskamera in der Einfahrt. Ich
hätte vorher anrufen können, fragen, ob sie genug Film eingelegt haben.«
    »Schon gut. Reg dich ab, Al. Ich bin mit dem Bus nach
Wareham.«
    »Wieso denn das?«
    »Um auf Nummer sicher zu gehen, dass du keine kalten Füße
kriegst und nur so tust, als hättest du's eingeworfen. Außerdem musste ich ein
paar Sachen erledigen.«
    »Was denn, bei der Polizei vorbeischauen und eine Selbstanzeige
machen?«
    »Urlaubskataloge besorgen.« Sie klopfte auf einen großen
Stapel Kataloge neben ihrem linken Oberschenkel, voll mit unbekümmerten
Pärchen, die in der Sonne herumhüpften. Was wissen die schon? Teneriffa,
Marbella, Capri, in einigen unserer schlimmsten gemeinsamen Augenblicke trugen
wir Sonnenbrillen. Sie lernt es nie.
    »Audrey, ich dachte, wir wären uns einig, keinen Urlaub
dieses Jahr. Weil wir den Gürtel enger schnallen müssen und so.«
    »Ja, und ich könnte morgen tot umfallen oder von einer
Klippe stürzen.«
    »Bitte?«
    »Von einer Klippe stürzen, vom Bus überfahren werden, an
einer Brezel ersticken. Dann hätte mir das Gürtel-enger-Schnallen toll was
gebracht. Also, wir machen Urlaub, und zwar richtig. Irgendwo anders. Was
hältst du vom Nil?«
    »Was soll ich vom Nil halten?«
    »Hättest du Lust drauf? Eine Schiffsreise, vorbei an den
Pyramiden?«
    »Was, wenn du reinfällst? Du weißt, ich kann nicht gut
schwimmen.«
    »Ach, leck mich, Al, oder deine Fische.«
     
    Ich verzog mich runter zum Teich, Alice' Dose in der
Tasche. Ich hatte lange kein Gras mehr angerührt, aber jetzt, wo ich nur
zuzugreifen brauchte, wie konnte ich da widerstehen? Ich setzte mich der Nymphe
gegenüber und blies ihr Rauch auf die unversehrte Kniescheibe, während mich
unvermittelt ein Gefühl der Leichtigkeit überkam. Torvill und Dean schwammen
unruhig unter mir. Sie merkten, dass ich aus den Fugen war. Für so was haben
sie ein Gespür.
    »Ich habe Blut an den Händen«, sagte ich zu ihnen, »kein
Blut mittleren Alters, sondern junges Blut und altes Blut, Blut, das nicht an
mir kleben sollte. Aber das tut es nun mal, seht ihr?«
    Ich streckte die Hände aus, aber sie konnten es nicht sehen,
und nach einer Weile ich auch nicht mehr. Der Rauch trieb langgezogen und
langsam hoch. Ich fühlte mich selbst auch ein bisschen verlängert, als wäre ich
schwerer und leichter, langsamer und schneller, alles gleichzeitig. Das
Geschehene schien irgendwie nichts mit mir zu tun zu haben. Ich drehte mir
noch einen. Alice war im Wunderland. Audrey machte Ramses dem Zweiten schöne
Augen, und ich, ich war noch immer am selben Platz, drehte und wendete mich wie
meine Freunde unter Wasser und versuchte, einen Weg nach draußen zu finden.
Sie hatte nicht unrecht, Mrs Schnüffelnase. Er war ein Gefängnis, der Teich,
und wenn ich ihn noch so hübsch aufmotzte, genau wie der Bungalow mit seinen
zwei Bädern ein Gefängnis war, wie das Dorf mit seinem Wunschbrunnen und den
strohgedeckten Cottages ein Gefängnis war, wie das Alcatraz meiner ganzen
beschissenen Welt.
    Ich ging wieder ins Haus, um die Autoschlüssel zu holen.
Audrey war bei Stapel zwei.
    »Lass mich raten«, sagte sie. »Du hast einen Kunden.«
    Ich hätte ja sagen können, aber irgendwas hielt mich zurück,
sagte mir, dass die Wahrheit genauso dienlich wäre.
    »Nein. Ich bin mit Iss verabredet. Der geht's nicht gut.«
    Sie nickte, überrascht über das, was ich gesagt hatte, und
auch erfreut, obwohl sie es nicht zeigen wollte. Vielleicht hätte ich das schon
vor Jahren machen sollen, ihr die Wahrheit sagen, was ich empfand, was mir
fehlte. Vielleicht wären wir dann nicht da, wo wir jetzt waren.
    »Okay. Sag ihr... sag ihr, ich bin auch mal weggelaufen,
als Teenager, eine ganze Woche lang.«
    »Hast du mir nie erzählt.«
    »Nein? Vielleicht hätte ich das tun sollen. Vielleicht
sollte ich jetzt auch weglaufen, allein den Nil runterfahren, nur ich und die
Pharaonen. Vielleicht wärst du dann nicht mehr so genervt von mir.«
    »Audrey.« Ich machte einen Schritt auf sie zu. Sie
schwenkte einen Katalog in meine Richtung. Frühling in den Schweizer Alpen.
    »Hau schon ab, Al. Bevor du noch was Nettes sagst.«
    Sie hatte Tränen in den Augen, ehrlich, aber sie wollte
mich nicht näher kommen lassen. Auf der Fahrt zum Campingplatz brachte mich
der Urlaubskatalog ins Grübeln. Schweiz. Interlaken. Die Jungfrau. Schnee wie
ein aufgeschütteltes Kissen. Das hörte sich wesentlich besser an als eine
Schiffstour auf