Binding, Tim
hat sie ja irgendwas gesehen. Hast du sie gefragt?«
»Natürlich hab ich sie gefragt. Die Polizei übrigens auch.
Sie hat nichts gesehen.«
»Glaubst du ihr?«
»Wieso sollte ich ihr nicht glauben? Es gibt keinen Grund,
weshalb sie wegen so was lügen sollte, oder?«
»Nein?«
Sie sah mich an, Geschichte in den Augen, ihre und meine,
und das ganze Chaos dazwischen. »Sie weiß es, Al. Sie hat's immer gewusst. Sie
konnte Miranda nie leiden. Schon damals, als Miranda noch im Kinderwagen lag,
hat sie sie angesehen wie etwas aus Rosemarys Baby. Sie hasst
sie.«
»Hassen würde ich nicht sagen.«
»Was würdest du denn sagen? Oh
Gott, Al. Unsere Miranda. Was ist ihr bloß zugestoßen?«
Sie begann zu weinen, heftige, bebende Schluchzer. Unsere
Miranda. Es war das allererste Mal, dass sie sie so nannte. Wie Messer war das,
die mir ins Herz stachen. Und wissen Sie was? Ich wollte ihr alles erzählen,
erzählen, was passiert war, was ich glaubte, vielleicht getan zu haben, wollte
ihr die Gründe erklären und dass ich das alles nicht gewollt hatte, dass ich
Miranda nie wehtun würde, niemals. Aber da stand ich nun vor ihr, ein Mann und
das, was er getan hatte. Ich wollte, dass das alles über mich hereinbrach,
wollte wieder spüren, wie der Wohnwagen ins Schwanken geriet, am Rande des
Verderbens kippelte. Und wenn sie gewollt hätte, hätte ich selbst die Stützen
weggekickt, damit wir über den Rand stürzten, sie und ich und Miranda, alle
drei zerschmettert, aber vereint unten in der Tiefe. Dem alten Miesepeter
hätte das gefallen, möchte ich wetten. Sie war Mirandas Mum, aber ich war ihr
Dad, Gott steh mir bei. Ich war ihr Dad.
Aber ich sagte nichts. Ich legte einfach den Arm um sie,
setzte sie wieder hin. Sie stieß mich nicht weg, wie ich erwartet hatte,
wischte sich bloß über die Augen und starrte zum Fenster hinaus. Ich kochte uns
Tee, tat in ihren ganz viel Zucker rein. Iss war schon immer ein
Leckermäulchen. Miranda auch. Wir tranken, während wir über das abschüssige
Feld blickten und auf das Meer dahinter. War sie wirklich da draußen, Gott
weiß wo, von den Wellen getragen wie ein Stück Treibholz, meine wunderschöne
Miranda, um irgendwann an den Strand gespült zu werden? Und die Hand, die
diese Tasse hielt, hatte sie ihr das wirklich angetan? Wenn ich nur genauer
hingesehen hätte, auf ihre Beine oder so, ihre Größe, ihre Hände. Aber ich hatte
nur den gelben Regenmantel gesehen, mehr war nicht nötig. Ich hatte ja
schließlich gewusst, wer drinsteckte.
Iss wischte sich wieder die Augen, nahm Haltung an,
drückte die Fingerknöchel ins Schaumgummipolster.
»Du hast recht. Wir hätten uns nicht hier treffen sollen.
Es ist kein schöner Ort, voller Lüge und Betrug. Schleppst du immer noch Frauen
hierher ab?«
»Iss.«
»Also ja. Menschenskind. Weiß jemand davon?«
»Iss. So was mach ich schon lange nicht mehr.«
»Nein? Warum bist du dann so nervös? Wenn du uns irgendwo
hinkutschiert hättest, lägen wir inzwischen längst in Dorchester im
Krankenhaus. Also, was hast du? Hat irgendeine geheimnisvolle Frau hier
irgendwas liegenlassen?«
Sie sah meinen Blick. Ich schaute auf die Tassen, die an
den Haken über dem Herd hingen. Miranda hängt sie egal wie auf, ich dagegen
immer so, dass sie alle in dieselbe Richtung zeigen, wie Soldaten bei einer
Parade. Das hat Miranda einmal zu mir gesagt, als sie mir dabei zuschaute. »Du
solltest zum Militär gehen, Al, alles hier steht stramm wie zum Appell. Da,
sogar die Kekse sehen aus, als würden sie jeden Moment in Ohnmacht fallen«, und
sie lachte dieses kehlige Lachen, das ihr aus jeder Pore drang, und steckte
sich einen in den Mund. Die Tassen hier hingen alle schön akkurat, bis auf die
letzten beiden am Ende. Die zeigten in die falsche Richtung. Typisch Miranda.
Aber dann dachte ich daran, wie wir das letzte Mal hier waren und sie die
Tassen gespült hatte, während ich neben ihr stand und über Brasilien und all
die Frauen witzelte, die ich nicht treffen würde. Ich hatte die Tassen
aufgehängt, nicht Miranda. Ich hätte sie doch niemals so aufgehängt. Nie im
Leben. Was bedeutete...
»Was ist, Al? Irgendwas verschweigst du mir. Das weiß
ich.«
»Iss. Ich verschweige dir nichts.« Ich versuchte, nicht daran
zu denken. Draußen war alles blendend hell. Es tat mir in den Augen weh, so
grell war es.
»Ich muss zurück«, sagte ich. »Ich möchte Audrey nicht zu
lange allein lassen.«
»Nein, wir dürfen Audrey nicht beunruhigen.« Sie
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