Binding, Tim
Flügel standen mindestens zwanzig
gerahmte Fotos von einer umwerfend aussehenden jungen Frau, in Kaftans und
Spitzentops, jede Menge Bein, auch obenrum nicht schlecht. Ein echtes
Partygirl.
»Ihre Tochter amüsiert sich wohl gern.« Das bremste sie.
»Tochter? Halten Sie uns für eine Familie von Zeitreisenden?«
Sie tippte nacheinander auf die Fotos. »Das ist Mark Bolan, das ist Aynsley
Dunbar, das ist Noel Redding.«
»Soll das etwa heißen, Sie sind da auf jedem Foto mit
drauf?«
»Korrekt.« Sie strahlte. Ich sah wieder hin. So ist das
Alter natürlich, nimmt dir alles weg, nicht bloß, dass du etwas gemacht hast,
sondern auch, dass du es überhaupt je hast machen können. Es lässt dich
aussehen, als hättest du niemals diese Person sein können, dass es jemand
anders war, jemand, den es längst nicht mehr gibt. Ich dachte an Audrey, als
ich sie kennenlernte. War sie da auch so? Hatte sie gern ihre Beine gezeigt und
Spitzentops getragen? War sie witzig? War ich witzig? Ich konnte mich nicht
erinnern. Ein bisschen davon musste doch da gewesen sein, oder? Irgendwas musste doch da gewesen sein.
Alice Blackstock zeigte mir ein anderes Foto. Sie lag ausgestreckt
in den Armen von vier ungekämmten Kerlen. Sie hatte einen Cowboyhut auf und
trug ein Fransenkleid, das ein gutes Stück über den Knien aufhörte. Gott, das
passte zu ihr.
»Erkennen Sie die?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Led Zeppelin! Robert Plant, Jimmy Page, John
Bonham, John Paul Jones.« Sie schwenkte die Arme. Ich musste
sie festhalten, damit sie nicht umkippte. »Die waren spitze. Die beste Rockband
der Welt. Ich bin ihnen überallhin gefolgt. Zigmal in ihrer Privatmaschine
mitgeflogen. Überallhin. Himmel, waren das wilde Zeiten.«
Sie sagte das mit Rührung in der Stimme.
»Das hätte ich nie gedacht, Mrs Blackstock.«
»Nein? Ich war nicht immer dreiundsechzig. Ich war einmal
zwanzig, genau wie Sie, genau wie Miranda. Ich wusste, was ich wollte. Die
beste Zeit meines Lebens, auch wenn der Preis hoch war. Ich war Mitte zwanzig,
als sie den großen Durchbruch hatten. Ich hab dieses Haus nach einem Song von
ihnen benannt, auf ihrem fünften Album, das mit den kleinen Mädchen auf dem
Cover, Houses of the Holy. Erinnern Sie sich?«
»Im Moment nicht.«
»Das müssen Sie doch kennen. Im März 73 kam es raus. Die
Jungs waren das ganze Jahr über auf Tournee. Zuerst Sheffield, gleich nach
Neujahr, dann Liverpool und alle großen Städte, dann Europa. Im März waren sie
in den Staaten. Ich konnte erst im Juli hin. War dann überall dabei, Chicago,
Indianapolis, Detroit. Was für eine Zeit. Ich wette, Sie haben nicht annähernd
so was Phantastisches erlebt.«
Allerdings nicht. Ich war an meinem sechzehnten Geburtstag
hier, weil wir jedes Jahr am fünfzehnten Juli hier waren, und tat so, als wäre
alles super, ging zum Kiosk, um eine Tüte Pfirsiche zu kaufen, und dann an den
Kieselstrand, wo Mum auf dem kleinen Felsvorsprung saß, aufs Meer hinausschaute
und eine Zigarette nach der anderen rauchte, während ich in den Wellen tauchte,
spürte, wie die Kälte meine Wut darüber wegspülte, dass es so sein musste. Ich
tat, was ich in jener Zeit immer tat, nämlich dafür sorgen, dass ich einen
schönen Geburtstag hatte, bei egal welchem Wetter, unter egal welchen
Umständen, weil es so wichtig für sie war. Also tauchte ich und schwamm ich und
rief ihr was aus dem Wasser zu. Später wurde sie richtig spendabel, ein Eis auf
die Hand für den Rückweg und am Abend Steak mit Pommes in dem Restaurant mit
Blick über die Bucht, ehe sie mir erzählte, ihre Hand auf meiner, dass es ihr
nicht besonders gut ging, dass die Ärzte meinten, sie müssten mit dem Tranchiermesser
an sie ran und ihr ein paar Stücke abschneiden, meiner Mum. Nein, es ging ihr
nicht besonders gut, aber sie brauchte noch drei Jahre, bis sie den Abgang
machte. Schönes Geburtstagsgeschenk, was?
Sie hatte das Foto wieder hingestellt und ließ sich auf
das Sofa am rückwärtigen Fenster plumpsen, den Kopf im Nacken, Augen
geschlossen. Ich sah mich rasch mal um. Eine Tür war abgeschlossen, der
Schlüssel steckte, aber ich kriegte ihn nicht gedreht. Hinter der anderen war
ihr Schlafzimmer, ein Einzelbett ohne Kissen, ein Nachthemd zusammengefaltet
auf der Decke und ein Nachttisch. Sonst nichts bis auf eine Messingtruhe in der
Ecke und eine Art Wäscheschrank, in dem ihre Kleider hingen. Eher eine
Klosterzelle als ein Schlafzimmer. So läuft das, was? Erst die Kerze abbrennen
und
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