Binding, Tim
gewesen, nicht
traurig. Vielleicht war es ja gar nicht Miranda gewesen. Zum ersten Mal lugte
ein kleiner Hoffnungsstrahl durch meine Wolken.
Ich öffnete die Augen. Ich hatte keine Wahl. Ich musste
hinsehen. Schließlich konnte sie noch immer da unten liegen. Ich machte einen
Schritt nach vorn, die Spitzen meiner Schuhe am Rand des Vergessens, den Wind
kräftig im Gesicht. Ich konnte über den Klippenrand sehen, aber nicht bis ganz
nach unten. Meine Augen jagten zu der Stelle hinab, wo ich nichts erkennen
konnte, wo es weiß und leer war, mir alles im Kopf herumwirbelte wie ein
Schneesturm, nichts, woran ich mich festhalten, worauf ich mich fixieren
konnte. Ich musste sehen, was dahinter war, wo alles zu Ende war, unten an der
Klippe, bei den Felsen und dem Meer. Also tat ich, was ich lieber bleibenlassen
sollte. Ich beugte mich vor. Das geht, wenn der Wind landeinwärts bläst. Er
hält dich oben, sodass du dich weiter vorbeugen kannst, als es vernünftig wäre,
weiter, als dein natürliches Gleichgewicht es verkraftet. Jugendliche, die hier
Urlaub machen, probieren das gern aus. Dann wirken sie ein bisschen wie
Draufgänger, als wüssten sie, wie das Meer und der Wind funktionieren. Kuck
mal, Ma! Ich fliege! Dann flaut der Wind jäh ab, und sie merken, dass sie doch
nicht so tollkühn sind. Sie sind ausgemachte Vollidioten, auf dem Weg ins
Jenseits. Ciao, Mum, tschüss, Dad, war schön, mich kennengelernt zu haben. Ted
Grogan muss einmal im Jahr von da unten eine Leiche bergen, regelmäßig wie ein
Uhrwerk.
Und hier stand ich nun, genauso krank im Hirn wie die Blödesten
von ihnen, und ließ es drauf ankommen, ob ich der Nächste sein würde.
Aber es funktionierte. Jetzt konnte ich die Stelle sehen,
die ich sehen musste, in all ihrer makellosen Pracht, der Wind peitschte meinen
Körper, die Kreide schimmerte glatt, als wäre sie frisch poliert worden, als wäre
sie eine Startbahn, die sich nach unten warf, dahin, wo alles anfing, zum
Aufschlagspunkt, wo die Klippe sich weitete und die Felsen glänzten, gegen die
das tiefe, minzgrüne Meer im trägen Rhythmus brandete, als wollte es sie
einlullen. In meinen Ohren brauste es, die Welt kreiste um mich herum, doch da
unten war es irgendwie still, als könnte nichts die Ruhe stören, nicht das
Meer, nicht der Wind, nicht einmal ein Körper, der vom Himmel fiel. Ich kniff
die Augen zusammen, suchte nach einem Fleck Gelb, einem Kringel Braun, sogar
einem Streifen Rot, wo vielleicht ihr Kopf aufgeplatzt war, aber alles war
sauber geschrubbt, gestärkt und gefaltet. Da war nichts, nichts. Und als ich
hinunter auf diese Leere starrte, wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Ich
hatte jemanden hinuntergestoßen, eine Frau, genau hier, vor nicht ganz zwei
Tagen. Jetzt war nichts mehr von ihr zu sehen, nicht da unten, nicht hier oben,
aber sie war hier gewesen, hatte auf diesem Stück Gras gestanden, genau wie sie
da unten gewesen war, ihr Körper an den Felsen zerschmettert. Ich war zu ihr
gelaufen und hatte sie in die Tiefe gestoßen, jemanden, der mir nichts getan
hatte, jemanden, den ich nicht kannte, jemanden, der mich nicht kannte.
Vielleicht hatte sie sowieso springen wollen. Vielleicht auch nicht.
Vielleicht waren ihr Flügel gewachsen, und sie wollte rüber nach Bayeux
fliegen, um denen dort auf den berühmten Teppich zu pinkeln. Wer weiß?
Entscheidend war, es hätte ihr Entschluss sein müssen, ihrer, nicht meiner. Ich
hatte ein Leben ausgelöscht. Und ich musste herausfinden, welches.
Es war Zeit zu gehen. Ich wollte einen Schritt rückwärts
machen, aber wissen Sie was, ich merkte, dass die Bewegung nach hinten
schwieriger war als die Bewegung nach vorne. Wenn man einen Fuß nach hinten
setzt, ruht das gesamte Gewicht auf dem vorderen Fuß. Unter normalen Umständen
denkt man nicht großartig drüber nach, aber wenn der fragliche Fuß über einem
sechzig Meter tiefen Abgrund hängt, wird die Frage der Gewichtsverteilung
brisant. Kann dieser winzige Fleck Erde das alles tragen? Welchen Fuß bewegst
du am besten, den rechten oder den linken? Was du da spürst, ist das ein Anflug
von Instabilität, der dir das Bein hochkriecht, oder ist es Urin, der dir am
Bein runterläuft? Ich erstarrte, wusste nicht, was ich tun sollte, fragte mich,
ob ich mich vielleicht einfach auf den Hintern fallen lassen und mit den
Ellbogen rückwärtsrobben sollte. Und dann sah ich es, zwischen den Felsen, wo
es hin und her glitt. Zuerst dachte ich, es wäre eine Robbe, aber
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