Birnbaeume bluehen weiß
aber weil er auf dem glatten Linoleum keinen Halt fand, hatte das wenig Sinn. Darum krallte er – in diesem Moment erinnerte er mehr an eine Katze als an einen Hund – die Vorderpfoten von außen in den Türpfosten.
»Jetzt komm schon, Daan«, sagte Gerard und zog an der Leine, »wovor hast du denn Angst? Gerson ist hier.«
Als Daan endlich im Zimmer war, tapste er eine Weile herum. Er beschnüffelte alles, die Beine von Gersons Bett, den Abfalleimer, das Abflussrohr vom Waschbecken. Er sprang auf die breite Fensterbank und schaute hechelnd nach draußen. Gerard wollte ihn hochheben.
»Lass ihn nur selbst machen, Gerard«, sagte Klaas. »Er geht bestimmt gleich zu Gerson.«
Klaas hatte recht. Nach einer Weile sprang Daan von der Fensterbank und setzte sich vor Gersons Bett. Er schaute nach oben, zum Fußende. Er fing leise an zu fiepen, aber er rührte sich nicht vom Fleck.
Gerard weinte. Er stand zwischen uns, und wir sahen jeder an einer Seite eine Träne über seine Wange rollen. Er machte keine Geräusche dabei, er zwinkerte nicht mit den Augen. Er sah zu Daan. Wir sahen auch zu Daan. Wir standen dort aufgestellt in einer Reihe und starrten auf Daan. Wir schauten ihn aufs Bett rauf. »Jetzt mach schon!«, sagten drei Augenpaare. »Spring aufs Bett!«
Daan sprang. Er landete auf Gersons Füßen. Da blieb er stocksteif stehen. Er machte eine Drehung, als wenn er sofort wieder vom Bett herunterspringen wollte. Vielleicht war er – genau wie wir vor ein paar Tagen – völlig verwirrt. Vielleicht wollte er Gerson ansehen und hatte entdeckt, dass es keine Augen gab, in die er schauen konnte. Er überlegte es sich aber anders. Er drehte sich wieder um und lief über Gersons Beine zu seinem Bauch. Dort blieb er noch einmal kurz stehen. Er stupste mit der rechten Vorderpfote ein paarmal gegen Gersons Brust, wahrscheinlich verstand er nicht, warum Gerson nicht reagierte. Dann trat er noch einen Schrittvor und beschnüffelte Gersons Kopf. Er fing wieder an zu fiepen. Er drehte sich in unsere Richtung und schaute uns an, als wenn er fragen wollte, was er jetzt machen sollte. Wir sagten nichts. Was hätten wir sagen sollen? Daan fing an, Gerson übers Gesicht zu lecken. Er hörte nicht damit auf.
»Daan, komm her«, sagte Gerard. Daan hört nie auf Gerard, er ignoriert ihn, aber dieses Mal gehorchte er. Na ja, gehorchen, er sprang jedenfalls vom Bett herunter und wieder auf die Fensterbank. »Auch gut«, sagte Gerard.
Wir stellten uns um das Bett. Bewegte sich da was? Finger, Füße, Zehen? Verzog er die Lippen? Rümpfte er die Nase? Wir starrten Gerson lange Zeit an und hofften, dass etwas passieren würde. Es passierte nichts. Kein Seufzer, keine Bewegung, gar nichts.
»Kommt«, sagte Gerard. »Wir gehen nach Hause.«
»Wir sind gerade erst gekommen«, sagte Kees.
»Ihr könnt nicht ständig hier sein«, sagte Gerard. »Ihr müsst auch mal in Ruhe zu Hause sitzen, das alles kostet Kraft.«
Daan war als Erster im Flur, wo er sofort aus der Kurve flog und erst an der Wand zum Stehen kam. Wir gingen langsam hinter ihm und Gerard her. Sehr langsam. Wir wollten noch ein wenig Zeit schinden, wir hofften noch auf etwas. Aber da war schon die Tür, und jetzt mussten auch wir um die Ecke biegen, auf den langen Flur hinaus. Und in diesem Moment kam es, es wurde uns hinterhergeschmettert, es flutete auf uns zu, wie Wasser nach einem Deichbruch, aus dem Zimmer, um die Ecke und auf den Flur hinaus, wo es zwischen den beiden Wänden zurückgeworfen wurde.
BIRNBÄUME BLÜHEN WEISS ! Ich bin ihn los, diesen Satz. Es ist eine Riesenerleichterung. Ich habe wieder Platz in meinem Kopf.
Etwas Seltsames ist passiert. Es fing an meinen Füßen an und zog langsam, aber sicher, nach oben. Ich bekam wieder Gefühl in den Beinen, ich fühlte etwas sehr Unangenehmes in meinem Pimmel, es brannte, mein Bauch wurde wieder Teil meines Körpers, es klopfte in oder auf meiner Brust (ich spürte Schmerzen; normalerweise ist das nicht angenehm, jetzt freute ich mich darüber), meine Ohren bekamen Luft, und endlich fühlte ich den nassen Lappen auf meinem Gesicht, den ich so vermisst hatte. Nur meine Arme waren noch nicht da. Ich war ein armloser Rumpf mit Kopf und Beinen. Ich wusste, dass ich mich bewegen und etwas sagen konnte, aber ich wusste auch, dass mir das erst gelingen würde, wenn meine Arme wieder da waren. Also konzentrierte ich mich darauf. Langsam fing mein linker Arm an zu kribbeln. Mein rechter Arm war immer noch schwer.
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