Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
gehen sie durch den Seiteneingang hinaus zum Pick-up. Der Junge hat gegen das Weinen anzukämpfen versucht, aber es nützt nichts. Seit der Sache im Klo kommen, sobald er den Mund aufmacht, nur furchtbare Schluchzer heraus und ersticken die Worte.
Als sie vor dem Pick-up stehen, bringt er schließlich hervor: Rufen wir nicht die Polizei?
Der Mann antwortet nicht. Er zwängt die Reisetasche hinter die Sitzbank. Als er damit fertig ist, hebt er schnell den Kopf und schaut über den Parkplatz.
Sag, drängt der Junge.
Sie würden wollen, dass wir hierbleiben, sagt der Mann und blickt den Jungen an. Und wir müssen doch weiter.
Aber – willst du denn nicht, dass er eingesperrt wird?
Doch, sagt der Mann. Komm, steig ein.
Aber -
Der Mann seufzt, dann legt er dem Jungen den Arm um die Schultern.
Ich will nicht, dass du noch mal in seine Nähe kommst. Ich will nicht, dass deine Mutter sich Sorgen macht. Ich weiß, ich weiß. Ich weiß. Er ist ein böser Mann. Aber deine Mutter …
Das Gesicht des Mannes sieht seltsam aus, so merkwürdig grau.
Sie soll sich doch nicht ängstigen, oder?, sagt der Mann.
Der Junge starrt zu ihm hoch.
Du müsstest hierbleiben, sagt der Mann. Du müsstest bei der Polizei aussagen, und du müsstest ihn bei einer Gegenüberstellung identifizieren. Willst du dir das wirklich antun?
Der Junge schaut auf seine Hände hinunter. Aus den Augenwinkeln sieht er einen Mann und dreht sich um. Es ist ein älterer Mann, der in ein Auto steigt, ein ganz normaler grauhaariger alter Mann, aber sein Herz klopft trotzdem wie wild.
Na komm, sagt der Mann. Machen wir, dass wir hier wegkommen. Okay?
Okay, sagt der Junge. Er klettert in den Wagen. Der Mann schiebt den Gurt für ihn in die Schließe. Der Mann riecht nach Schweiß, und sein Atem geht schwer. Sein eigener auch, merkt der Junge – so lange, bis sie endlich auf dem Highway sind und die Stadt und das Motel und der Park hinter ihnen zurückbleiben.
III.
Lange nach Anbruch der Dunkelheit fährt der Mann in eine Raststätte irgendwo im tiefsten Kansas. Den Großteil der Strecke haben sie hinter sich. Seit er den Jungen aus der Toilette im Park befreit hat, sind sie fast ohne ein Wort durchgefahren. Der Junge hat nicht geschlafen. Er versucht zu lesen, aber der Mann kann sehen, dass er nur so tut; mit leerem Blick sitzt er da, fast wie im Schock. Ab und zu nickt er ein, schreckt aber gleich wieder hoch. Es ist nichts aus ihm herauszubekommen, aber er schaut sich immer wieder um, als würde er ganz nahebei etwas sehen oder zu sehen glauben, was ihn bedroht.
Der stinkende Penner in der Parktoilette. Der Mann sieht ihn wieder vor sich, wie er sich an ihm vorbeidrängt und wegrennt, in das Wäldchen hinter dem Park. Dieser Gestank, wie ein Hund, der aus Mülltonnen frisst. Schon der Gedanke an ihn ist dem Mann unerträglich. Er sieht das tränenverschmierte Gesicht des Jungen vor sich, hört seine hustenden Schluchzer. Der Mann wünscht, er hätte den Penner festgehalten, sich auf ihn geworfen, ihn zu Boden gedrückt, auf die nackte Erde, und ihn dort erwürgt. Der Junge rückt nicht raus mit dem, was da drinnen passiert ist, aber der Mann kann es sich auch so vorstellen.
Es ist ein riesengroßer Rastplatz, mit einer Cafeteria und einem Souvenirladen hinter den Zapfsäulen und sogar einer Werkstatt mit Mechanikern für die großen Lastzüge. Er wirkt wie eine kleine Stadt, glitzernd in der Dunkelheit, wimmelnd von Menschen. Der Mann parkt ganz am Rand des Parkplatzes, auf der Seite zur Straße hin.
Hast du Hunger?, fragt er den Jungen.
Der Junge schüttelt den Kopf.
Alles in Ordnung?
Der Junge nickt, ein automatisches Nicken.
Ich würde gern ein bisschen schlafen, sagt der Mann. Kommst du so lange klar?
Glaub schon, sagt der Junge.
Der Mann verriegelt die Türen. Er rollt ein Sweatshirt unterm Kopf zusammen und lehnt sich an die Tür. Er kann spüren, dass der Junge sich nicht von der anderen Tür weggerührt hat.
Du vermisst deine Mutter, stimmt’s?
Mhm.
Der Mann kann nicht anders: Du siehst sie ja bald wieder, sagt er. Er weiß nicht, wie es weitergehen wird, seine Zukunftspläne hin oder her. Er fragt sich, ob er gelogen oder die Wahrheit gesagt hat.
Der Junge schaut zu seinem Fenster hinaus.
Ist sie wirklich krank?, fragt er.
Ja, sagt der Mann.
Du lügst.
Nein, sagt der Mann behutsam.
Der Junge schnieft.
Ich will dir nur sagen, beginnt der Mann und bricht ab, räuspert sich. Er kann den Jungen nicht weinen sehen. Hat es
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