Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
ging die Schritte bis zum Arbeitszimmer vorsichtig auf seinen feuchten Socken.
Das Arbeitszimmer war Toms Allerheiligstes gewesen. Er hatte eine Schwäche für Interieurs im Corleone-Stil, Mahagonimöbel, Lampen mit grünem Schirm, Füllfederhalter. Hier drin fühle ich mich am meisten als Anwalt, hatte er immer gesagt. Danny kam das Zimmer jetzt eher wie ein Bestattungsinstitut vor: zu still, zu dunkel.
Er knipste die Schreibtischlampe an und ging zu dem Rollpult in der Ecke. Er fand darin die Eisenschatulle und den an der Unterseite der obersten Schublade festgeklebten Schlüssel, genau wie Tom es ihm gezeigt hatte.
In der Schatulle war ein Stapel versiegelter brauner Umschläge, alle mit Toms ordentlicher Handschrift beschriftet. Fahrzeugpapiere. True Brew. Hypothek. Geb.-Urkunden. Und dann, ganz unten: Im Falle des Todes von Tom Schultz und Brynn Matthews.
Danny schlitzte den Umschlag mit Toms großem goldenem Brieföffner auf. Ein Bündel Papiere und Kuverts, gewichtig und amtlich, rutschte ihm auf den Schoß. Obenauf war ein kleinerer Umschlag, ebenfalls zugeklebt. FÜR DANIEL O’DAY. PERSÖNLICH stand mit Filzstift darauf.
Danny starrte an die Zimmerdecke, bis das Stechen in seiner Nase nachließ.
Er drehte den Umschlag zweimal in den Händen und wünschte sich sehnlich, ihn nicht öffnen zu müssen. Verdammt, er dachte gar nicht daran, ihn zu öffnen! Er würde den ganzen Krempel in den Kamin werfen und verbrennen. Sollte doch alles so laufen wie anderswo auch. Sollte sich doch jemand aus Toms oder Brynns Familie – Walt! – um Colin kümmern, um all die Kuverts, um diese ganze Scheißbescherung.
Nein. Tom hatte sicher irgendwo Kopien. Er war der Typ dafür.
Danny wischte sich über den Mund. Was war er nur für ein Arschloch. Er konnte die Papiere nicht vernichten, weil es auffliegen würde? Nicht etwa, weil er bei seinen besten Freunden im Wort war? Weil ihm etwas an ihrem Kind lag?
Siehst du?, fragte er Tom im Geiste. Siehst du, was für eine Schnapsidee das war?
Mit einem Seufzer griff er nach dem Brieföffner.
Aus dem Umschlag kam ein Briefbogen zum Vorschein, dessen Hintergrund blass bedruckt war: eine dieser vergilbten alten Weltkarten, auf denen schuppige Meeresungeheuer die Köpfe aus Ozeanen recken. Das Blatt war eng mit Toms Handschrift beschrieben.
Danny,
tja, es ist vier Uhr früh, und ich bin in einer merkwürdigen Stimmung. (Wer hätte das gedacht?) Ich hoffe, in zwanzig Jahren zeige ich dir diesen Brief und wir lachen darüber. Wenn du ihn vorher liest … ja, dann sind Brynn und ich tot, und du weißt besser als ich, was passiert ist. (Oder du hast geschnüffelt, in welchem Fall ich dir wünsche, dass es dich mindestens genauso gruselt wie mich jetzt. Und du bist verpflichtet, es mir zu beichten, du Schafskopf.)
Gut, aber wenn wir tot sind und Colin noch lebt, dann findest du in diesem Umschlag alles, was du für die nächsten Schritte brauchst. Unsere Testamente sind notariell beglaubigt – du musst sie nur unserem Anwalt geben, und er wird alles in die Wege leiten. Er ist ein Freund von uns; du kannst ihm vertrauen. Den größten Teil unseres Vermögens sollst du verwalten, bis Colin selbst alt genug dafür ist. Brynn und ich haben außerdem jeder eine Lebensversicherung – die von Brynn ist zu Colins Gunsten abgeschlossen, meine zu deinen. Das Geld sollte reichen, um die Hypothek abzubezahlen, falls du von hier weg willst – denk um Gottes willen nicht, du müsstest hierbleiben! Wenn das Schlimmste eingetreten ist, sollst du dich auf gar keinen Fall angebunden fühlen.
Wir haben so ziemlich Colins gesamte Säuglingszeit auf Video. Ich habe vorhin versucht, einen Brief an ihn zu schreiben, aber es hat mich zu fertig gemacht. Wahrscheinlich ist es das Beste, du lässt ihn die Videos einfach anschauen, wenn er so weit ist. Sie sind in einer feuerfesten Truhe im Keller.
Nun zum unguten Teil. Was meine Eltern von mir halten, weißt du. Und solltest du es noch nicht geahnt haben: Dich mögen sie auch nicht besonders. Der gottlose, ungewaschene etc. Ich bin ziemlich sicher, dass sie deine Vormundschaft anfechten werden. Und wenn sie es richtig anstellen, macht Walt möglicherweise auch mit. Ich weiß, dass das hart für dich werden wird; ich weiß, dass du an den Punkt gelangen wirst, wo es dir einfacher erscheint nachzugeben, aber bitte, tu’s nicht. Wenn ich schon nicht Colins Vater sein kann, dann möchte ich wenigstens, dass du es bist. Du hast eine zu geringe Meinung
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